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Lagerfeuerersatz - darum gehen Fans zum Public Viewing

Die Menschen stehen dicht gedrängt und wer sich nicht rechtzeitig einen guten Platz sichert, sieht nur wenig vom Fußballspiel. Warum zieht es auch bei dieser EM wieder Menschen zum Public Viewing?

Von Thomas Eßer, dpa 19.06.2016, 08:44

Köln (dpa) - Ob in Berlin, Hamburg oder im Ruhrgebiet - auch bei der laufenden Fußball-Europameisterschaft pilgern wieder tausende Menschen auf die Fanmeilen der Republik. Sie wollen dem Gefühl, live im Stadion dabei zu sein, möglichst nahe kommen.

Public Viewing ist die größte Annäherung an das Live-Erlebnis, ohne eine Eintrittskarte für das Stadion zu haben, sagt der Hamburger Sportwissenschaftler Thomas Horky.

Gemeinsam jubeln, gemeinsam leiden - die Emotionen stehen bei den Fans des Rudelguckens im Mittelpunkt. Durch das Gruppenerlebnis werden die Gefühle verstärkt. Psychologin Dr. Katja Mierke von der Hochschule Fresenius erklärt im Blog adhibeo.de: Die meisten Menschen wissen, dass sich emotionale Ausnahmesituationen intensiver anfühlen, wenn man sie gemeinsam mit anderen Menschen durchlebt. In der Psychologie werde dieses Phänomen Gefühlsansteckung genannt.

Fans, die zusammen mit Gleichgesinnten beim Fußball mitfiebern, empfänden zudem eine spezielle Verbundenheit, meint Mierke. Das sieht auch Sportwissenschaftler Horky so: Wenn ein Tor fällt, feiert eine riesige Masse. Das verstärke das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Horky geht sogar noch einen Schritt weiter. Er nennt WM- oder EM-Spiele das letzte Lagerfeuer der Nation. So wie man früher am Lagerfeuer und später bei den Samstagabend-Shows vor dem Fernseher zusammengesessen habe, träfe man sich heute zum Fußballgucken - auf großen Plätzen unter freien Himmel oder in voll gepackten Kneipen. Die Turniere seien Ereignisse, die eigentlich von allen Menschen, von der ganzen Familie, gemeinschaftlich gefeiert werden.

Natürlich geht nicht jeder Fußballinteressierte gerne zum Public Viewing - und daran ist nicht nur das teils ungemütliche Wetter schuld. Vielen ist es zu voll, meint Horky. Man hat es mit einer schlechten Infrastruktur zu tun und kommt zum Beispiel nicht so gut auf die Toilette. Ein weiterer Kritikpunkt an Fan-Festen: Manche Menschen dort sind stark alkoholisiert.

Doch trotz einiger Skeptiker - insgesamt sei Public Viewing in den letzten Jahren immer beliebter geworden, sagt Horky. Bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea hätten sich erstmals viele Leute an öffentlichen Plätzen in Asien getroffen, um gemeinsam Fußball zu schauen. Seit der WM 2006 sind Fanmeilen in Deutschland ein Massenphänomen.

Selbst Menschen, die dem Rudelgucken kritisch gegenüber stehen, können sich ihm oft nicht entziehen und stehen dann fahnenschwenkend in der Menge. Man darf auch nicht vergessen, dass viele Leute zum Public Viewing gehen, weil eben die ganze Gruppe hingeht, meint der Sportwissenschaftler. Der Zwang der Gemeinschaft ist beim Fußballgucken während der EM oder WM relativ groß.

Interview mit Prof. Katja Mierke auf "adhibeo.de"