A wie Analphabet

Menschen, die nicht schreiben und lesen können, haben es schwer. Aber sie finden oft recht pfiffig ihren Weg. Die französische Filmemacherin Clara Elalouf hat Analphabeten porträtiert.

Von Carsten Rave, dpa 03.09.2015, 23:01

Berlin (dpa) - Jean-Claude Tireau schlendert über seinen Markt, auf dem er über Jahre einen Stand hatte. Seine Altersgenossen sind kaum noch da, jüngere sind nachgerückt, aber man kennt ihn: Tireau ist einer der Bio-Pioniere in Frankreichs Landwirtschaft.

Der alte Mann, der so schön schelmisch und vor allem zahnlos grinsen kann, hat in seinem Leben viele Trends gewittert, weil er seine Nase immer im Wind hatte. Und vielleicht auch, weil er nur wenig lesen und schreiben kann.

Der Bauer ist ein Selfmade-Mann mit einigen Firmen, unter anderem auch einer Pastis-Destillerie in Martinique. Einige Projekte sind gescheitert, andere sind ihm geglückt. Wie er im Arte-Film A wie Analphabet an diesem Freitag (22.40 Uhr) erklärt, sei sein Vater Wilderer gewesen, das Verbotene habe ihn gereizt, mit 13 sei er von der Schule geworfen worden. Seine Mitschüler wollten alle zu großen Firmen wie Renault. Die Dummen, sagt er, blieben auf dem Land.

So wie Jean-Claude Tireau. Er ist einer von geschätzt 75 Millionen in Europa lebenden Menschen, die überhaupt nicht oder wenig lesen und schreiben können. Clara Elalouf hat sich von ihrem Vater Salomon, einem arabischen Einwanderer zu dem Film inspirieren lassen, der des geschriebenen Wortes auch nicht mächtig war, aber als Schneider eine beachtliche Karriere hinlegte. Die Autorin hat den Film ihrem Vater gewidmet, der ihr den Sinn für Poesie erst gegeben habe, wie sie im Abspann sagt.

Es gibt zwei Formen des Lernens, sagt der alte Bauer Tireau. Die eine aus Büchern, die andere aus dem Beobachten. Wieder grinst er dabei. Mit Stolz erzählt er, wie er seine Kunden immer um die Finger gewickelt habe. Am Ende war die Nachfrage immer höher als das Angebot, sagt er. Er gründete unter anderem eine Molkerei in der Normandie, verkaufte das Werk, baute eine neue auf, war für Nestlé als Berater tätig und verkaufte später landwirtschaftliche Maschinen - alles mit Worten, aber ohne Schrift. Verträge? Per Handschlag!

Tireau teilt sein Schicksal mit Alain Machefer. Der ist Vater von sechs Söhnen und einer Tochter. Die Söhne sind wie ihr Vater nur unter großer Mühe in der Lage, ein paar Worte aufzuschreiben. Viele sehen es als meine Schuld: Er kann nicht lesen, also können es seine Söhne auch nicht, sagt Bauunternehmer Machefer. Wir hatten früher auch schon Besuch vom Jugendamt, das der Frage nachging, ob wir unsere Kinder misshandeln. Analphabetismus - was ist das für ein Wort! Das klingt nach Behinderung.

Seine Söhne, der jüngste ist inzwischen auch schon 16, eifern ihrem Vater nach. Er ist trotz seinen Defiziten in Schreiben und Lesen ein Vorbild für sie. Vier sind bereits berufstätig. Sie meistern ihr Leben. Eine kleine Weisheit hat ihnen Vater Alain bereits mitgeben: Ein blauer Fleck verheilt irgendwann. Ein böses Wort über deine Schwäche hinterlässt für immer eine Wunde.

A wie Analphabet