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Ausstellung Wenig Luther, viel Gefängnis

Wittenberg hat mit „Luther und die Avantgarde“ eine internationale Kunstausstellung bekommen - und einen neuen Ausstellungsort.

Von Uta Baier 20.05.2017, 23:01

Wittenberg l Avantgarde sind traditionell diejenigen, die radikal Neues denken und wagen. Das mag auf Luther zutreffen. Aber auf Stephan Balkenhol? Wer wollte behaupten, dass mit einem Künstler, der seine immer gleichen Holz-Männchen überall dort aufstellt, wo sie gewünscht werden, ein avantgardistischer Bildhauer, ein Erneuerer und Neudenker nach Wittenberg gekommen wäre? Doch er gehört neben 68 anderen internationalen Künstlern zum exklusiven Kreis, der in Wittenbergs ehemaligem Gefängnis an der Berliner Straße seine Werke unter der Überschrift „Luther und die Avantgarde“ zeigen darf.

Ausgefallene Orte für die Präsentation von Kunst inspirieren, wenn das Ausstellungsthema es nicht schafft. Und so gibt es Zellen in Wittenberg, die mehr mit dem Gefängnisthema als mit Luther zu tun haben.

Der chinesische Künstler Ai Weiwei etwa thematisiert ein weiteres Mal seine eigene Gefängniserfahrung und stellt einen Block mit dem Abguss seines Körpers in eine Zelle. Ilya und Emilia Kabakow arrangieren irgendetwas mit bunten Seilen, die die Gedanken von Inhaftierten darstellen sollen. Und Marzia Migliora platziert eine prächtige Kniebank vor die goldenen Schließfächer eines Bank­tresors und nennt das Ganze „Schuld“. Sie will natürlich nicht nur die Anbetung des Geldes allgemein illustrieren, sondern auch den von Luther kritisierten Ablasshandel.

Das ist insgesamt wenig originell, ziemlich plakativ, aber immerhin leicht zu verstehen. Und nicht weiter schlimm, denn Wittenberg hat mit dem behutsam hergerichteten Gefängnisbau nicht nur eine große internationale Kunstausstellung bekommen, die dem Rundgang durch das fein gemachte, historische Wittenberg einen schönruppigen, vielstimmigen Abschluss gibt. Sondern auch einen neuen Ausstellungsort, an dem in Zukunft Kunst gezeigt werden soll.

Wer allerdings, wie Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte, von der Kunst mit Bezug auf Luther „Empörung über das Monumentale“, Empörung auch über das „Machtvolle, Alldeutsche, Repressive, Antijüdische“ erwartet, wird enttäuscht werden. Luther ist für viele Künstler Schrift geworden. Das kann so faszinierend-technisch und präzise-sinnlich sein wie bei „bios (bible)“ von der Künstlergruppe Robotlab, die einen Roboter die Bibel abschreiben lassen. Sie kann aber auch so banal ausfallen wie bei Jörg Herold, der sich in einer Luther-Ausstellung lieber mit dem Koran beschäftigte und arabische Schriftzeichen in die Wände kratzte.

Für den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm ist das genug. Er schreibt im Katalog: „Denn in ihrem Bemühen, wie Seismografen frühzeitig Entwicklungen zu erspüren und sichtbar zu machen, leisten Kunst und Kirchen gleichermaßen einen wichtigen Beitrag für das öffentliche Selbstverständnis und die Selbstverständigung unserer Gesellschaften.“

Dass Künstler keinem Auftrag- oder Themengeber folgen müssen und trotzdem thematisch arbeiten und etwas zu sagen haben, beweisen die besten Arbeiten in dieser Ausstellung: Jonathan Meese etwa zeigt, was er immer zeigt: Sein Chaos aus Worten und Bildern, das die Kunst heiligspricht. Für Wittenberg hat er ihr 95 verrückte, starke, wilde Thesen gewidmet. Meeses Furor passt prima zu unserer Vorstellung von Luther.

Christian Jankowski dagegen hält nicht viel von Gewissheiten. Deshalb erschüttert er sie nur allzu gern. In einer von ihm inszenierten Castingshow hat er eine Jury aus einem Priester, einem Kunstkritiker und einem Mitglied der italienischen Bischofskonferenz „ihren“ Jesus auswählen lassen. Wie diese drei Männer der Macht der traditionellen Bilder ausgeliefert sind, wie sie verzückt „ihren“ Heiland erkennen und auswählen, das beschreibt Kirchen- und Kunstgeschichte gleichermaßen – und lässt den Betrachter, wie einst Luther, an ihren Normen zweifeln.