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Premiere Boesmans erregende Geigentöne

Die Kammeroper "Julie" des belgischen Komponisten Philippe Boesmans ist im Schauspielhaus Magdeburg zu sehen.

Von Irene Constantin 06.11.2016, 23:01

Magdeburg l Besetzt sind drei dankbare Solistenpartien und ein Kammerorchester ohne exotische Instrumente. Das von Luc Bondy nach Strindbergs Drama geschriebene Libretto erzählt eine stringente, Theatergängern wohlbekannte Geschichte. Die Musik ist einleuchtend, gut anhörbar. Sie funktioniert als eine Art Atmosphären– und Emotionsverstärker, ähnlich wie Filmmusik. Kein Wunder also, dass „Julie“ von Philippe Boesmans seit über 10 Jahren weltweit oft gespielt und gern besucht wird.

Die Magdeburger Aufführung liefert dazu noch die wunderschöne Vogelvolieren-Bühne von Tal Schacham und eine dem Kammerspiel gemäße, sehr genaue Inszenierung von Sebastian Gruner. Nicht die große Operngeste, sondern das Mienenspiel, die Blicke, ein herabgezogener Mundwinkel, die Art, wie die Figuren gehen und stehen, erzählen hier den Untergrund der Geschichte.

„Es war eine Lieb‘ zwischen Füchsin und Hahn…“, nur dass am Morgen nicht die goldenen Federn im Strauch hängen, sondern die Füchsin verblutend am Boden liegt. Julie, die Gräfin, hat in der Mittsommernacht ihren Stolz vergessen, ihrem Begehren nachgegeben, ist mit dem geschmeidigen Diener Jean in ein Sexspiel abgetaucht und neben einem kleinen gemeinen Macho wieder zu sich gekommen. Jean genießt seine moralische Überlegenheit, selbst die mit ihm verlobte junge Köchin Kristin ist nun ein besserer Mensch. Julie bleibt, sowohl bei dem Misogyn Strindberg als auch bei Bondy und Boesmans, nur die Hinnahme des von Jean dargereichten Rasiermessers – obwohl die Gründung des angedachten Startups „Ferienhotel am Comer See“ vermutlich die pragmatischere und dieser Tage auch die wahrscheinlichere Lösung gewesen wäre. Aber geht man deshalb in die Oper?

Viel besser sind doch Boesmans‘ einsame Paukenschläge, erregende Geigentöne, verwehende Glissandi, betörende und gleich darauf gläsern zersplitternde Akkorde sowie seine sublimen melodischen Einsprengsel. Mit einem zarten Singsang wird die junge Kristin eingeführt, große Intervalle in exponierter Stimmlage zeigen den unebenen Gemütszustand Julies an, Jean führt sich im Parlando ein. Im Verlauf der Handlung intensivieren sich sängerische Linien und man hört Koloraturen und ariose Teile. Musikalischer Höhepunkt ist die parallele Traumerzählung von Julie und Jean. Er sieht sich steigen, sie möchte fallen, jedoch ihre Gesangslinien umschlingen einander.

Lucia Cervoni lässt ihren Mezzosopran außerordentlich variabel klingen, frauliche Wärme und die vokalen Exaltationen ihres zerrissenen Gemütszustandes wechseln abrupt. Man folgt ihr höchst gespannt. Thomas Florio hatte die schwierige Aufgabe zu bewältigen, bei der gleichen hohen stimmlichen und physisch-spielerischen Präsenz eine Null-Type, ein biegsames Subjekt, gleichsam ein arroganter Wurm zu sein. Es gelang ihm perfekt. Julie Martin du Theil war als mädchenhafte Kristin die plötzlich aufgestörte Unschuld in Person. Himmelhohe Koloraturen signalisieren den Einbruch des Bösen in ihr frommes Gemüt. Dreimal hinreißend gelöste, schwierige Aufgaben vor einem hautnah sitzenden Publikum. Jovan Mitic und die Magdeburger Philharmonie saßen gut geschützt mit den Vögeln in der Voliere. Es wurde präzis, fast kristallen musiziert, mit kleinen Vergnügungen an feinen wohllautenden Soli.