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Psychologie Auf der Suche nach dem Bösen

Kriminalpsychologin und Bestseller-Autorin Lydia Benecke im Gespräch über menschliche Abgründe.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 24.11.2016, 23:01

Ihre Themen, die sich mit der psychologischen Sicht auf Sadisten, Vampire, Serienmörder, Psychopathen oder schlichtweg dem Bösen im Menschen befassen, enthalten für den Normalbürger einen gehörigen Gruselfaktor. Gleichzeitig sind Sie eine anerkannte seriöse Wissenschaftlerin. Ist das nicht ein schmaler Grat, auf dem Sie balancieren?

Lydia Benecke: Da ich mich schon seit meiner Schulzeit mit ungewöhnlichen und gruseligen Themen beschäftigt habe, kenne ich es nicht anders. Meine Mitschüler fanden es unterhaltsam, sich von mir gelegentlich Gruselgeschichten erzählen zu lassen. Für mich standen schon immer das Interesse am Verstehen des Universums und der Welt im Allgemeinen sowie der menschlichen Psyche im Besonderen im Mittelpunkt.

Die menschliche Psyche ist sehr komplex. Warum dann gerade das Böse davon?

Krasse Straftaten gab es in allen Zeiten und Kulturen. Sogar sehr ähnliche Taten und Tätertypen. Das illustriert, welche zutiefst in der Menschheit verwurzelten, psychologischen Faktoren die Grundlagen entsprechender Straftaten sind. Es wäre völlig irrational, in diesen Bereichen nicht zu forschen und mit Straftätern nicht zu arbeiten, nur weil die Themen mit unwillkürlichen negativen Empfindungen verknüpft sind.

Wie viel Böses steckt in den Menschen, und warum?

Meine Einstellung zu den Themen „Gut und Böse“ habe ich im Buch „Auf dünnem Eis - Die Psychologie des Bösen“ ausgedrückt: „Der ‚normale‘ Gedankengang ist: Jemand, der (...) etwas Grauenvolles tut, muss als ganze Person zutiefst böse sein.“ Leider ist die Welt nüchtern betrachtet nicht ganz so einfach. Sie zerfällt nicht in entweder „gut“ oder „böse“.

Ein eher harmloses Beispiel: Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hat sein Leben dafür riskiert, dass zukünftige Generationen schwarzer US-Amerikaner nicht unter der unmenschlichen Rassen-Diskriminierung leiden. Er muss ein zutiefst guter Mensch gewesen sein, oder? Wussten sie aber, dass er seine Frau häufig betrog, dass sie davon wusste und darunter litt? Ist es nicht „böse“, seinen Partner zu betrügen, ihm damit sehr wehzutun und ihn trotzdem immer weiter zu hintergehen? Die meisten Menschen würden diese Frage bejahen.

Es geht also eher darum, was überwiegt?

Genau. Manche Menschen haben es leichter, andere schwerer, sich „gut“ zu verhalten. Doch jeder Mensch ist in der Lage, sowohl „gute“ als auch „böse“ Entscheidungen zu treffen. Unter gewissen situativen Bedingungen – beispielsweise während eines Krieges – verhalten sich mehr Menschen „böse“, als sie es unter anderen Umständen täten. Manche Menschen sind aufgrund ihrer psychologischen Grundausstattung nur schneller und leichter zu „bösen“ Entscheidungen fähig als andere.

Gilt das auch für Sie, die die Mechanismen analysiert?

Natürlich gelten die Mechanismen auch für mich. Doch ich halte das Bewusstsein darüber, welchen psychologischen Mechanismen ich als Mensch unterliege, für eine nützliche Basis, um bewusster und selbstreflektierter Entscheidungen fällen und aus Fehlern lernen zu können.

Worin besteht die Faszination für die Abgründe des Menschseins?

Wahrscheinlich spielt hier eine Mischung unterschiedlicher Faktoren eine Rolle: Straftäter überschreiten Verhaltensgrenzen. „Warum tut ein Mensch das? Was muss das für ein Mensch sein?“, sind die Fragen, auf die der Durchschnittsbürger häufig keine schnellen Antworten findet. Daher weckt die Suche nach den Antworten Interesse. Spannung und Rätsel haben einen hohen Unterhaltungswert.

Ebenso gibt es ein ganz grundlegendes, evolutionär begründbares Prinzip: Gefahrensignale erzeugen unwillkürliche Aufmerksamkeit. Wenn Gefahren schnell und intensiv wahrgenommen werden, erhöht das aus evolutionärer Sicht die Überlebenschance.

Außerdem gibt es die bei vielen Menschen verbreitete Faszination für Verbrecher, die ganz besonders gewissenlos und grausam handelten. Hier scheinen eigene aggressive Anteile eine Rolle zu spielen.

Welchen Einfluss haben Erziehung, Moral, Kultur und Bildung auf das immanente Böse?

Schwere Straftaten gab es in allen Zeiten und Kulturen. Offensichtlich gibt es gewisse kulturunabhängige Faktoren, die sehr ähnliche Gefühls-, Gedanken- und Verhaltensmuster bei Menschen erzeugen. Hier spielen hauptsächlich Bindungserfahrungen und die Lebensumgebung während der frühen Kindheit und Jugend eine Rolle.

Und die kulturell bedingten Faktoren?

Kinder, die emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlungen erleben, haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, später psychische Probleme zu entwickeln. Welche Probleme das sind, hängt von ihren Erbanlagen und anderen Umweltfaktoren ab.

Auch der empfohlene Erziehungsstil hat sich geändert. Heute wird empfohlen, empathisch auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Kindern einzugehen, sie nicht mit Härte, sondern mit liebevollem, aber konsequentem Verhalten zu Menschen mit gesundem Selbstwertgefühl und der Fähigkeit, kritisch zu denken, zu erziehen. Die veränderte Grundhaltung erzeugt kombiniert mit dem gesetzlich geregelten Schutz des Kindeswohls insgesamt eine Tendenz, die sich positiv auf die Entwicklung vieler Kinder auswirkt.

Schwere Straftaten, sogar Serienmorde, nehmen in den westlichen Industriekulturen seit mehreren Jahrzehnten insgesamt kontinuierlich ab. Die Realität steht also im Gegensatz zur Wahrnehmung vieler Menschen, die aufgrund von Medienberichterstattung, Filmen und Serien das Gefühl haben, es gäbe immer mehr schwere Verbrechen.

Lydia Benecke hält am 2. Dezember im Magdeburger Familienhaus einen Vortrag mit dem Titel "Die Psychologie des Bösen: Was sind und tun eigentlich Psychopathen?" Es ist eine Weiterbildungsveranstaltung für Rechtsanwälte des Unternehmens „SternSeminare", die für Interessierte offen ist. Wegen der großen Nachfrage ist eine Anmeldung unbedingt erforderlich unter www.sternseminare.de