Gericht Richter hebt U-Haft auf

Eine 50-Jährige aus dem Landkreis Börde muss sich vor dem Landgericht Magdeburg verantworten. Die Anklage lautet versuchter Totschlag.

Von Bernd Kaufholz 01.06.2017, 23:01

Magdeburg/Haldensleben l Das tiefe Durchschnaufen des Ehemanns der Angeklagten, der nach seiner Aussage im Zuschauerraum des Großen Gerichtssaals Platz genommen hatte, war deutlich zu hören. Der 54-Jährige hatte gerade die Entscheidung der Schwurgerichtskammer gehört.

Der Vorsitzende, Dirk Sternberg, hatte den Haftbefehl des Amtsgerichts Haldensleben vom 20. Januar dieses Jahres aufgehoben: „Für die Kammer ist ein dringender Tatverdacht bezüglich der versuchten Tötung nicht mehr gegeben.“ Das Gericht sehe keine Gründe mehr für Untersuchungshaft. Die Angeklagte, die zu Prozessbeginn noch in Handschellen von der U-Haftanstalt in Halle nach Magdeburg gebracht worden war, konnte vorerst nach Hause.

Kerstin P. war angeklagt worden, am 18. Januar 2017 versucht zu haben, ihre damals 79 Jahre alte Mutter in Haldensleben zu ersticken. Sie habe der Kranken im Bett erst ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, und als die alte Frau dieses zur Seite werfen konnte, ein zweites.

Staatsanwältin Sylvia Lerch sprach von Tötungsabsicht. P. habe ihre Mutter zurückgelassen, weil sie davon ausgegangen sei, dass sie sterben werde. Zumal sie zuvor den Notknopf versteckt habe, den die 79-Jährige am Handgelenk getragen habe, um im Notfall Helfer zu alarmieren. Es habe akute Lebensgefahr bestanden. Am nächsten Morgen hatte P. selbst den Notarzt gerufen.

Die Angeklagte, der einige Male die Tränen in die Augen schossen, berichtet über das schwierige Verhältnis zur Mutter. Begonnen habe das etwa ein Jahr vor der Tat. „Meine Mutter hat mich immer wieder angerufen – auch nachts – weil sie aus Haldensleben weg wollte. Sie wollte zu uns ziehen.“

Der Gesundheitszustand der Mutter sei immer schlechter geworden. Mehrere Krankenhausaufenthalte, Pflege im Haus der Tochter und Pflege in der eigenen Wohnung wechselten sich ab. Ab Januar sei die Mutter immer unleidlicher geworden.

„Ich bin dreimal am Tag nach Haldensleben gefahren, habe sie gewaschen, sauber gemacht, mich um die Katze gekümmert, meiner Mutter Gesellschaft geleistet und für sie Essen gekocht.“ Doch die 79-Jährige habe sie nur beschimpft als Hexe und Miststück, habe das Essen als Fraß bezeichnet und sie beleidigt. Selbst mit einem Stock habe sie nach ihr geschlagen.

Trotzdem hätten sie und ihr Mann überlegt, die Mutter zu sich nach Hause zu holen. Pläne für den behindertengerechten Ausbau des Hauses habe es schon gegeben. Der Pflegedienst sei „in Absprache mit der Mutter“ abbestellt worden, das Pflegegeld von rund 400 Euro habe sie bekommen.

Am Tattag sei die Kranke „schon am Morgen aggressiv“ gewesen. Sie habe ihre Tochter im Gesicht gekratzt und gesagt: „Jetzt bist du hässlich. Jetzt guckt dein Mann dich nicht mehr an.“ Sie solle in den Graben fahren. Sie und die Enkel seien tot für sie, genau wie ihre anderen zwei Kinder, zu denen sie schon lange keinen Kontakt mehr hat.

„Ich ziehe mich eigentlich immer in mein Schneckenhaus zurück“, sagte die Angeklagte. Aber an diesem Tag – „es tut mir sehr leid, so etwas macht man nicht“ – habe sie ein Kissen gegriffen und es der Mutter aufs Gesicht gedrückt. Und als sie das erste Kissen weggedrückt hatte, ein zweites. „Nur ganz kurz. Ich wollte sie nicht umbringen. Ich habe mich auch sofort entschuldigt.“

Gegangen sei sie, weil die Mutter erbost gerufen habe: „Verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen!“ Am nächsten Tag habe ihr die Mutter mitgeteilt, dass sie aus dem Bett gefallen sei. „Sie wollte aber nicht, dass ich den Arzt anrufe. Ich habe es aber trotzdem getan.“

Das Alarmieren des Rettungsdienstes könnte das Gericht als „Rücktritt von der Tat“ werten. Dann bliebe lediglich noch eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung übrig.