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Dresdner Kreuzchor Wort und Klang finden eine Einheit

Zum 20. Mal gastierte der MDR Musiksommer im Havelberger Dom. Zu Gast war der Dresdner Kreuzchor.

Von Brigitte Strugalla-Voltz 04.07.2016, 16:17

Havelberg l Eine besondere Situation, ein doppeltes Jubiläum, erfordert ein besonderes Konzert: so hatte der MDR, zum 20. Mal im Havelberger Dom zu Gast, einen der besten Chöre Deutschlands zum Musiksommer 2016 eingeladen. Der seit 800 Jahren bestehende Dresdner Kreuzchor kam nach Havelberg in den vor 1070 Jahren gegründeten Dom. Ein großartiges Musikerlebnis war zu erwarten. Entsprechend groß war die Nachfrage. Zum Einlass bildete sich vor dem Nordportal eine lange Schlange, und im Dom waren auch die Seitenschiffe bestuhlt – mit allen Stühlen, die im Klosterbereich aufzutreiben waren. Die Gäste kamen zum Teil von weit her. Sie nutzten das Konzert zu einem Wochenende in Havelberg, das sich auch in schönstem frischem Sommerwetter präsentierte.

Der Dresdner Kreuzchor – knapp 70 Jungen von 9 bis 19 Jahren waren auf Konzert­reise gegangen – hatte sich ein interessantes Programm, einen Querschnitt durch die anspruchsvollste geistliche Chorliteratur ausgewählt, vom Frühbarock mit Hans Leo Hassler bis in die jüngste Zeit. Begleitend dazu hatte der MDR ein schön gestaltetes Programmheft mit ausführlichen Informationen zu den verschiedenen Komponisten erstellt.

Den Kreuzchor kennt man von Fernsehauftritten „aus der Ferne“. Aus der Nähe eine erste Überraschung: das sind Kinder, die hier in ihrer schlichten Konzertkleidung singen, richtige Jungs und keine musizierenden Zinnsoldaten. Und die „Großen“ sind junge Persönlichkeiten. Da wurden also junge Menschen über die Jahre in ihren individuellen Anlagen sorgfältig entwickelt, und genau daraus entsteht dann jener einmalige Chorklang, von dem in Havelberg nun eine Kostprobe zu hören war. Die Musikpädagogen des Kreuzchores leisten eine ganz hervorragende Arbeit.

Der erste Teil des Havelberger Konzerts zeigte 400 Jahre Musikschaffen in der Chormusik auf allerhöchstem Niveau. Er begann mit dem Kyrie und dem Gloria aus Mendelssohn-Bartholdys Deutscher Liturgie, ein schwieriges, fast akademisches Stück für achtstimmigen Doppelchor, und führte über Kaminski, Hassler, Schütz, Schein und Monteverdi schließlich zu Johann Sebastian Bach, von dem man sich mit „Der Geist hilft unser (!) Schwachheit auf“ auch nicht die einfachste Komposition ausgesucht hatte.

Der Chor musizierte locker, fast routiniert. Die einzelnen Stimmen wechselten in der Führung, die Soprane und Tenöre strahlten, die Alte und Bässe bildeten ein kraftvolles Fundament, in entsprechenden Stellen als klangvoll-markanter Melodieträger.

Heinrich Kaminskis „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“ erfordert ein Sopransolo. Dann tritt einer der kleinen Sänger vor den Chor und singt mit großen Augen, tiefem Ernst und jener unnachahmlichen Knabenstimme, die man viel zu selten hört – und der Dom klingt mit. Ergreifend.

Roderich Kreile, der langjährige Kreuzkantor, führt zurückhaltend, fast weich. Oft gibt er nur den Takt, ganz selten dirigiert der Körper mit, so am Anfang des sehr tänzerisch vorgetragenen „Laudate pueri dominum“ von Monteverdi. Kreile spricht die Texte der führenden Stimmen sorgfältig mit, und seine Mimik interpretiert den Sinn der Worte, die die Jungen dann in Musik umsetzen. So bekommen auch schwierige Texte ihren Sinn, ja, Wort und Klang finden zu jener Einheit, die der geistlichen Musik die besondere Tiefe geben kann. Ganz großartig gestaltet der Kreuzkantor die jeweiligen Schlusstakte. Ritardando und Schlussakkorde sind so schön, dass man sich richtig darauf freut. Dann klingt der Dom nach. Gut, dass der Moderator zu Anfang gebeten hat, den Applaus auf das Ende der beiden Konzertteile zu beschränken. Denn „Ruhe ist ein Teil der Musik und sie wird die Klänge noch verstärken.“

Die Pause nutzen viele der Zuhörer zu einem kleinen Gang durch den Dom. Die jungen Sänger entspannen im Kreuzgang. Ob es ihnen gefällt, im Havelberger Dom zu singen? „Ja, aber eben waren wir zu hoch, viel zu hoch.“ Und: „Wir kommen fast alle aus Dresden, nur ganz wenige sind woanders her.“ (Erstaunlich. Dresden weiß wohl um den Wert seiner kulturellen Ausstrahlung, und das zahlt sich auch intern aus.) Und weiter: „Wir sind so 120 bis 130 Kruzianer, davon singen höchstens 80, der Rest ist halt im Stimmbruch.“ Und euer Chorleiter? „Der findet es hier auch gut, aber der ist ganz traurig, weil ja von den Großen heute so viele gehen.“

War es dieses Bewusstsein des Abschieds, was dann den zweiten Konzertteil so wirklich einmalig machte? Diese unglaubliche Steigerung der Intensität bis zum Schluss, ja über den Applaus hinaus? Hat hier der Kreuzkantor seinen langjährigen Schützlingen noch einmal alles Wichtige mit auf den Weg geben wollen – und wir Zuhörer durften daran teilhaben? „Seid fröhlich in Hoffnung“ von Homilius, ganz liedhaft, fröhlich und verhalten-nachdenklich im Wechsel wurde gefolgt von Max Regers tiefsinnigem Gebet „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit“.

Die Texte dabei hervorragend verständlich, die Aussage überwältigend. Danach das „Pater noster“, das lateinische „Vater unser“, eins der schönsten Gebete der Welt, in einer hinreißenden musikalischen Interpretation von Max Baumann, eine verzweifelt-flehentliche Bitte. Vielleicht war es dieses eher kurze Stück, was Kreiles gestalterische Fähigkeit, musikalisch und chorpädagogisch, am besten zeigte. Danach tröstete dann Stanfords „Beati“. Und als letzte Bitte auf den Weg schloss Brahms’ fünfstimmige Motette „Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz.“

Großer, begeisterter Applaus. Ist das noch zu steigern? Die erste Zugabe ist ein bekanntes Lieblings- und Abschiedslied: Bleib bei uns… von Joseph Rheinberger. Dann kam der endgültige Abschied der „Großen“: sie sangen allein Schuberts „Heilig, heilig, heilig“, das Sanctus als demütig-stille Anbetung, ganz piano und ganz intensiv. Es gab dicke Tränen, und auch bei den Kleinen mussten sich viele die Augen wischen. Im Publikum wird ebenfalls mancher, der mit der Unbarmherzigkeit der Zeit, der Vergänglichkeit schon mehr Erfahrung hat, mitgetrauert haben. Und so war der Schlussapplaus beim Auszug durch den Mittelgang nicht nur begeisterte Dankbarkeit für ein großartiges Konzert, sondern ein ganz herzlicher Wunsch für die Zukunft der scheidenden jungen Sänger.

Einen Konzertmitschnitt gibt es im Internet auf kreuzchor.tv. Auch der MDR wird einen Teil des Konzerts im Havelberger Dom senden. Dafür ist der 20. August vorgesehen.