WeihnachtsgeschichteKassette unter der Eiche

Am Heiligen Abend sei es ausnahmsweise an dieser Stelle gestattet, eine etwas andere Weihnachtsgeschichte zu veröffentlichen.

Von Thomas Linßner 23.12.2015, 16:04

Groß Rosenburg l Wir schreiben das Jahr 2115. Auch im Elbe-Saale-Winkel haben sich – der allgemeinen Notwendigkeit folgend – die erneuerbaren Energien durchgesetzt. Nur noch ein paar Nostalgiker feuern einen Kamin.

Obwohl Holz ja genug da ist. Die Wälder haben sich nur langsam von den Umweltsünden des 20. Jahrhunderts erholt. Viele alte Bäume sind abgestorben oder „werfen mit Holz“. Deshalb besteht kein Mangel an Kaminholz.

Zu den „Nostalgikern“ zählen auch Amanda und Tassilo Ulrichshof, die im kleinen Saaledorf leben, dessen Einwohnerzahl sich in den vergangenen hundert Jahren kaum verändert hat. Beide haben ihren Online-Arbeitsplatz Zuhause. Sie sind seit zehn Jahren glücklich miteinander verheiratet.

Am Heiligen Abend 2115 holt Tassilo Ulrichshof Pferd und Schlitten aus dem Stall (auch in dieser Beziehung ist er altmodisch, obwohl die meisten Leute mit dem Elektromobil fahren), um noch schnell Holz aus dem Wald zu holen. Auf der alten Forststraße zur Saale kennt er ein paar Stellen, wo gutes Eichenholz liegt. An der „Gruselei“ biegt er nach links in den Wald. Zwischen 100-jährigen Eschen stehen ein paar trockene Eichen. Der letzte Novembersturm hat einige von ihnen umgeworfen. In der vergangenen Nacht gab es fünf Zentimeter Neuschnee, ein alter Saalearm ist schon seit Wochen zugefroren. Tassilo Ulrichshof hat es auf die mächtigen Kronen abgesehen.

Es dauert nicht lange, da setzt er bei einem Prachtexemplar von Baum die Kettensäge an. Die Schnitte hallen durch den menschenleeren verschneiten Wald, bis die diamantbeschichtete Kette ein merkwürdiges Geräusch von sich gibt.

Bei genauerem Hinsehen stellt der Rosenburger einen Metallgegenstand fest, der mit dem Wurzelwerk des Baumes ans Tageslicht befördert wurde. Der Holzmann ist erstaunt, als er den Gegenstand als Kassette identifiziert, die sich trotz ihres offensichtlich hohen Alters problemlos öffnen lässt. Noch größer werden seine Augen, als er den Inhalt erkennt. In Kunststoffbahnen und Ölpapier eingewickelt hält er Papiere, Münzen, Fotos und drei DVD‘s in den Händen.

Mit seinem „Schatz“ macht er sich sofort auf den Rückweg, um ihn seiner Frau Amanda zu zeigen. Sie ist Ärztin und gibt ihren Patienten online Gesundheitstipps, wobei sie die meiste Zeit ihr Haus nicht zu verlassen braucht.

Der Fund wird vorsichtig auf dem Tisch ausgebreitet und analysiert. Die Datierungen sind um die hundert Jahre alt. Die Fotos zeigen immer wieder die selben zwei Menschen. Es handelt sich um einen Mann und eine Frau. Er ist etwa 1,90 Meter groß, sie 1,70, hat dunkles Haar und ist gut gebaut.

Die weitere Betrachtung lässt unschwer erkennen, dass es sich um ein Paar handelt. Schon allein die Fotos, die die beiden in inniger Umarmung zeigen, machen das deutlich.

Als die Finder eine der drei DVD‘s in ihren Computer schieben (der erstmal eine Weile braucht, um das Uralt-Format zu lesen), kommen auch Briefe zum Vorschein. Darunter befindet sich eine Liste mit kurzen, datierten Sätzen. Schnell stehen die Vornamen der Beiden fest. Sie heißen Amanda und Tassilo…

Amanda und Tassilo Ulrichshof gucken sich an. So ein Zufall! Oder etwa nicht? Schließlich sind die Vornamen nicht allzu häufig.

Nach eingehender Auswertung des Inhaltes ergibt sich folgendes Bild: Die Liebenden lebten am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ob beide miteinander verheiratet waren geht nicht aus den Einträgen hervor.

Die Finder des 22. Jahrhunderts rührt der Fund aus dem Wald an. Warum und wann vergrub man ihn ausgerechnet dort? Und was war der Grund dafür? War es ein besonders heiliger Ort für die Beiden? Nach Beurteilung eines vergilbten Fotos könnte das so sein. Es zeigt sie bei einem Picknick an der Saale. Von dem Bild geht unheimlich viel Harmonie aus. Im Hintergrund ist eine Eiche zu sehen …

Es muss irgendein Ereignis gegeben haben, warum sie das Material im Wald vergruben. Vielleicht sollte es nach ihrem Tod nicht fremden Leuten in die Hände fallen, die in ihr Haus einzogen? Die Zusammenstellung verrät aber auch, dass die Beiden Romantiker waren. Vielleicht lässt sich damit einiges erklären.

Für das Durcharbeiten der Papiere hatten die Finder mehrere Tage gebraucht. Das Material war ja ziemlich umfangreich. Als sie die Schatulle schon weg legen wollen, fällt Tassilo ein DVD-Ordner auf, den er zuvor vergessen hatte zu öffnen. Er trägt das Erstellungsdatum „24. Dezember 2015“. Als die beiden Rosenburger den zweiseitigen Text ausdrucken und seine ersten paar Zeilen lesen, trifft sie fast der Schlag: Es handelt sich um eine Beschreibung, die sie selbst und den Fundhergang in hellseherischer Perfektion am Weihnachtsabend 2115 detailliert beschreibt. Gänsehaut!

Ein Jahr zuvor hatten japanische Wissenschaftler den Nachweis erbracht, dass die Reinkarnation (Wiedergeburt) wirklich stattfinden soll …