Lesung Der Forensik-Freak

Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke ist im ausverkauften Dr.-Tolberg-Saal in Schönebeck aufgetreten - im Gepäck einen geheimnsivollen Mordfall.

Von Massimo Rogacki 01.10.2016, 01:01

Schönebeck l Ob im Fernsehen, als Zeitschrift oder in Buchform: Formate, die sich um echte Kriminalfälle drehen, sind schon seit einiger Zeit wahnsinnig populär. Kriminalbiologe Mark Benecke kann das nur recht sein. Zwar füllt der TV-Forensiker schon seit langem zuverlässig Säle deutschlandweit. Trotzdem hat der aktuelle „True Crime“-Boom das Zeug, seine Popularität noch einmal etwas zu befördern. Das wäre im Sinne von Mark Benecke. Denn er braucht Aufmerksamkeit – in hohen Dosen.

Am Donnerstagabend lauschen 234 Gäste im ausverkauften Dr.-Tolberg-Saal den Ausführungen des 46-Jährigen. Erster Eindruck: Der Mann spricht wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma. Es hat etwas von Hypnose. Großartig. Der Saal ist still, alle kleben an den Lippen des tätowierten TV-Forensikers. Er hat einen echten Mordfall aus der fränkischen Provinz mitgebracht. 50 Messerstiche. Opfer und Täter befanden sich in einem abgeschlossenen Raum. Der Fall scheint offensichtlich. Es kann nur einen Mörder geben. Oder eben doch nicht.

Bevor er sich mit den Zuhörern im Tolberg-Saal in die Tatortarbeit stürzt, gibt es zunächst eine Turbo-Unterweisung im richtigen Sehen. „Denkgrenzen aufweichen“ nennt Benecke das.

Denn Denken und Erfahrung, das vermeintlich Offensichtliche – das alles sei am Tatort hinderlich. „Wir müssen unvoreingenommen sein und wie Kinder in alle Richtungen gucken“, fordert der Forensiker. Sonst schlägt uns unser Geist ein Schnippchen und puzzelt Details auf Grundlage des Weltwissens und des Erlebten zusammen.

Um gewohnte Perspektiven aufzuheben, schreckt Benecke auch vor einer peniblen Inspektion des Salzelmener Bahnhofs nicht zurück. „Einen schönen Bahnhof haben Sie, extra auf alt gemacht“, witzelt der in Köln lebende Benecke.

Dann zeigt er Detailaufnahmen von Spinnenweben, schlechten Graffitis und von unzähligen „biologischen Spuren“. Kurzum: Der Bahnhof in „Western-Optik“ ist zwar ein Trauerspiel, aber ein Paradies für einen Detailfanatiker wie Benecke. Die Sprache verschlägt es ihm beim Blick auf das Gradierwerk. „Hat doch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schwarzen Tor von Mordor“, so der Kriminalpsychologe. Doch all das ist nicht wichtig und nur eine Fingerübung für ihn und das Auditorium. Noch einmal: Perspektiven aufbrechen – das ist das Credo des Forensik-Freaks. Am Ende ist im Mordfall natürlich nichts so wie es scheint.

Unter Erregung wohliger Schauer werden den Gästen im Kurpark immer neue Details und Zusammenhänge vom Tatort vorgestellt. Am Schluss wird das Urteil der Richter ad absurdum geführt. Ob es zu einer Wiederaufnahme des Falls kommt oder die vermeintliche Täterin noch immer sitzt, wird an dieser Stelle nicht verraten.

Die Zuhörer jedenfalls entlässt der Tatort-Entertainer nach über zwei Stunden nicht gerade mit einem Happy-End in die milde Salzelmener Nacht. Das entspricht der Realität. Denn, sagt Benecke, wir müssen uns endlich mal davon verabschieden, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt.