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Kloster Göttliches Zentrum der Innovation

Auf der Saaleinsel hat es einmal eine Stiftskirche gegeben, die höher und prächtiger als die St. Stephani-Kirche von Calbe war.

Von Dieter Horst Steinmetz 17.04.2016, 23:01

Calbe l Im Jahr 1131 legten zwei Männer auf einer Erhebung am östlichen Ufer der Saale den Grundstein für eine bedeutende Klosteranlage. Der Hügel lag gegenüber der erzbischöflichen Burg, die erst Calvo, dann Calve hieß. Der eine der beiden Männer war um die Fünfzig, blass und von hagerer Gestalt, der andere ein stattlicher Dreißiger. Beide trugen eine kahlgeschorene Kopfplatte, eine Tonsur, das eindeutige Erkennungszeichen der Kleriker, wie man die geweihten Priester nannte. Der Jüngere, der mansfeldische Graf Otto von Reveningen, hatte die Priesterweihe erst kürzlich erhalten, der Ältere war der europaweit bekannte Reformer und Gründer des Prämonstratenser-Ordens, der französische Edelherr Norbert von Xanten. Und beide waren überredet worden: Norbert vom Papst, die vakante Stelle des Erzbischofs von Magdeburg zu übernehmen, danach Otto von Norbert, Ottos beachtliches Vermögen für die Anlage eines prämonstratensischen Reformklosters zu stiften.

Erzbischof Norbert, der sich auch den Hügel wegen der permanent drohenden Hochwasser-Gefahren und der Nähe der schützenden Erzbischofs-Burg Calve ausgesucht hatte, nannte die Stiftung „Gratia Dei“, zu Deutsch „Gottes Gnade“. Das deshalb, weil es ihm wie ein göttliches Wunder erschien, den zwar unverheirateten und kinderlosen, sich aber störrisch weigernden Grafen Otto doch noch zur Herausgabe seines großen Vermögens überredet zu haben. Norbert weihte das entstehende Werk der Jungfrau Maria und dem Heiligen Victor sowie den anderen Thebaischen Märtyrern. Victor war ein bekannter Heiliger aus Norberts Heimat Xanten, der dort der Sage nach mit den Resten seiner aus Theben stammenden christlichen Armee von nachfolgenden nichtchristlichen römischen Legionen umzingelt und niedergemacht wurde. Bemerkenswert dabei ist, dass Kohortenführer Victor mit einem anderen Befehlshaber, dem farbigen Nordafrikaner und Christen Mauritius (Moritz) befreundet war, der schon vorher an einem anderen Ort mit Teilen der Theben-Legion von nichtchristlichen Truppen massakriert worden war. Und Mauritius war der Schutzpatron des Erzbistums Magdeburg, dem neuen Wirkungsfeld Norberts. Das passte gut.

Nach einigen Monaten waren die ersten Unterkunfts- und Sakralbauten von „Gottes Gnade“ fertiggestellt worden, und 22 Kleriker, die man nun Regularkanoniker oder Stiftsherren nannte, 19 Laienbrüder (Nicht-Kleriker) und 17 Laienschwestern zogen ein. Die Bauern der Umgebung gehörten zur Stiftskloster-„Familie“ und hatten es relativ gut. Weil das mit den Laienschwestern, besser gesagt, mit den Brüdern nicht gut ging, wurden die Frauen bald nach Jüterbog verlegt. Der kränkliche Norbert starb schon 1134, als „Gottes Gnade“ noch lange nicht fertig war. Als Pröpste (Vorsteher) des prämonstratensischen Stiftes hatte er noch zwei glaubenseifrige junge Franzosen und Mitstreiter bestimmt. Der erste wurde bald vom Papst nach Palästina berufen, wo er 1134 beim heutigen Tel Aviv ein Prämonstratenser-Stiftskloster gründete, das 1187 mitsamt den Insassen durch die Truppen Sultan Saladins ein grauenvolles Ende fand.

Der nachfolgende Propst führte seit 1133 in „Gottes Gnade“ ein so asketisch-hartes Regime, dass es zu Selbstmorden und Tumulten kam, die das junge Unternehmen an den Rand des Scheiterns brachten. Auch Bruder Otto von Reveningen floh aus seiner eigenen Stiftung trotz der angedrohten himmlischen Strafen. Erst als der hitzköpfige Propst von der Versammlung der Brüder, die man Konvent nannte, als Missionar zu den Slawen nach Mecklenburg weggelobt worden war, kehrte Ruhe und klösterliches Gedeihen, ja, bald auch Wohlstand ein. 1164 konnte auf dem höchsten Punkt des Hügels, dort wo sich heute eine Kleingartenanlage befindet, eine große Stiftskirche von Erzbischof Wichmann geweiht werden, die höher und prächtiger als die Stephanskirche von Calve gewesen sein soll. Wichmann weihte das Marien-und-Victors-Münster in Anwesenheit „vieler Bischöfe und Würdenträger der Kirchen in Gegenwart der Fürsten und der Edlen des Landes mit vielem Aufwand und Pomp.“ Um das Gedeihen des Stiftsklosters bemühte sich eine ganze Reihe bedeutender Ostland-Experten, unter ihnen Konrad von Wettin und Albrecht der Bär. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die Slawen, die das Gebiet östlich der Elbe-Saale-Linie besiedelt hatten, mit „Feuer und Schwert“ nicht zu unterwerfen waren.

Nun setzte man auf die Christianisierung und wirtschaftliche Erschließung der slawischen Gebiete, und dazu schienen die Prämonstratenser bestens geeignet zu sein. „Gottes Gnade“ war von Mauern umgeben, hatte ein geräumiges Wirtschafts-Areal mit Wein- und Bierbrauereien, Speichern, Kellern, Schatzkammern, Werkstätten und Laboratorien sowie auch Hospital-Krankenstuben und blühte auf zum geistlich-kulturellen, sozialen sowie auch wirtschaftlichen Zentrum weit und breit.

Weil es die Stiftsinsassen störte, wenn ständig Kranke und Siechende bei den Hospital-Brüdern im Innern der Anlage um Heilung ihrer Gebrechen baten, verlegte man das Hospital mit einer neu errichteten, kleinen Kirche vor die Mauern. Die der Jungfrau Maria und dem Evangelisten Johannes geweihte Hospitalkirche hatte der Stellvertreter des Propstes, der Prior Bernhard, zur Erlangung seines Seelenheils 1207 aus seinem eigenen Vermögen gestiftet. (Sie steht jetzt noch als einziger Sakralbau der Anlage.)

In Historiker-Kreisen ist man sich heute einig, dass besonders die Prämonstratenser-Stiftsklöster im Hochmittelalter Innovationszentren gewesen sind. Rationalisierung der Planung, geregelte Verfahrensabläufe, organisatorische Schriftlichkeit, effiziente Arbeitsteilung und stabiles Güter-Recht waren Trümpfe, welche die Prämonstratenser von „Gottes Gnade“ nicht nur bei der Kolonisierung des Slawenlandes und ihrer damit verbundenen hohen Wertschätzung, sondern auch bei der Herausbildung einer besseren Wirtschaftlichkeit im Heiligen Römischen Reich auszuspielen hatten. Die Stiftsklöster funktionierten wie frühmoderne Wirtschaftsunternehmen. Die Prämonstratenser spannten – wie auch die Zisterzienser - über ganz Europa ein Netz von Mutter- und Tochterstiftungen. Wenn ein reicher Stifter rief, packten jeweils 12 Brüder ihre Sachen im Mutterkloster und zogen dorthin, woher die Bitte gekommen war. Sie gründeten dort ein Tochterkloster, in das wiederum neue Brüder aufgenommen wurden.

Da „Tochter“ auf Lateinisch „Filia“ heißt, nannte man eine solche Neugründung eine Filiale. Die wurde aber nach einiger Zeit wieder zu einem Mutterkloster, und so ging das immer weiter. Das Netz des berühmten Ur-Mutterklosters „Gottes Gnade“ vor Calbe reichte vom Rheinland bis ins Baltikum. Als im Spätmittelalter das Slawenland bis zur Oder und darüber hinaus kolonisiert worden war, hatten die Prämonstratenser ihre beste Zeit hinter sich. Krisen und Katastrophen kamen schließlich auch über „Gottes Gnade“.