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60 Jahre Kinderheim Kindheit mit Schlossblick

Seit 60 Jahren bietet das AWO-Kinder und Jugendhaus in Wernigerode Mädchen und Jungen ein Zuhause.

Von Sandra Reulecke 11.02.2016, 00:01

Wernigerode l Seit 1956 finden Mädchen und Jungen im Wernigeröder AWO-Kinderheim am Kreuzberg in Wernigerode ein temporäres Zuhause. Rund 2100 waren es bis heute, entnimmt Jutta Lehmann den Unterlagen. Sie ist seit ist seit 46 Jahren die Leiterin der Einrichtung und verbindet viele Erinnerungen mit dem Haus.

Erinnerungen an Umbauten, an ehemalige Kollegen und Weggefährten, besonders erinnert sie sich aber an die Kinder, die mittlerweile erwachsen sind. „Manche erkenne ich sofort wieder – am Mundwinkel und daran, wie sie sprechen. Bei anderen muss ich länger überlegen“, sagt Jutta Lehmann. Am Mittwoch war das Gedächtnis der Leiterin besonders gefragt: Aus Anlass des 60-Jährigen Bestehens der Einrichtung kamen zahlreiche Ehemalige zu Besuch.

„Es spricht wohl für uns, dass sogar Leute, die mittlerweile in Rente sind, heute hier sind“, sagte Jutta Lehmann. „Auch die ehemaligen Kollegen kommen uns noch gern besuchen.“

Zu ihnen zählte Helga Vogt. Die 87-Jährige übernahm ein Jahr nach der Eröffnung die Leitung des Hauses und war später die Mentorin von Jutta Lehmann. „Von innen ist das Gebäude von damals nicht mehr zu vergleichen“, sagte die ehemalige Leiterin. „Aber die Atmosphäre ist noch genauso herzlich wie früher.“

Als sie noch jung im Amt war, in den 1950er Jahren, wohnte Karl-Heinz Muhl aus Derenburg für etwa zwei Jahre in der Einrichtung. „Viel weiß ich nicht mehr“, gestand er. „Sicherlich auch, weil ich viel aus meiner Kindheit verdrängt habe.“ Negativ sei die Zeit im „Kreuzberg“ jedoch nicht gewesen, betonte er.

Dennoch prägte es ihn, nicht im Elternhaus aufgewachsen zu sein. „Er sagte früher immer, dass er mich um meine heile Familie beneidet“, berichtete Brigitte Muhl. Sie kannte ihren Mann bereits als Jugendliche. Doch die beiden haben sich aus den Augen verloren, andere Partner geheiratet und jeweils zwei Kinder bekommen. „Nach der Wende hat er sich wieder bei mir gemeldet“, verriet Brigitte Muhl. Sie ergänzte stolz: „Nun sind wir seit zehn Jahren verheiratet.“

Brigitte Muhl hat auch den Anstoß gegeben, dass ihr Mann nach mehr als 50 Jahren wieder das Kinderheim „Kreuzberg“ besuchte. Der Tag der offenen Tür sei eine willkommene Gelegenheit. Dass es ihn der Rundgang durch das Heim so bewegen würde, hätte der 63-Jährige nicht erwartet. „Ich erkenne die Räume kaum wieder“, staunte Karl-Heinz Muhl bei seinem Rundgang durch die Einrichtung. „Jetzt ist es hier fast wie in einem Hotel.“

Als er als er im Vorschulalter im „Kreuzberg“ wohnte, war er eines von 55 Kindern. Damals gab es noch einen großen Gemeinschaftsschlafsaal. Heute leben die 21 Kinder und Jugendlichen in geräumigen Ein- und Zweibettzimmern.

Was ist ihm aus seiner Zeit in dem Wernigeröder Kinderheim am meisten im Gedächtnis geblieben? „Der Blick auf das Schloss“, berichtet Muhl. Und, dass er beim Rodeln die erste große Beule seines Lebens bekommen hatte.

Blessuren vom Schlittenfahren kennt auch Gerhard Blume. Bei einem Winterausflug der „Kreuzberg“-Bewohner in den späten 1970er konnte er nicht mehr rechtzeitig bremsen und durchbrach samt Schlitten einen Gartenzaun. „Tagelang konnte ich danach nur noch Pudding essen“, berichtete der 46-Jährige lachend. Er mochte die Wintermonate im Kinderheim. „Wir waren oft auf dem schönen Weihnachtsmarkt“, sagte er. Zu den Festtagen selbst stand ein geschmückter Baum im Gemeinschaftraum. Für die Kinder lagen darunter mit Süßigkeiten gefüllte Jutesäcke. „Wir waren zufrieden und haben das Beste aus der Situation gemacht. Ich fand die Zeit schön“, resümierte Gerhard Blume. „Aber mir fehlt der Vergleich, wie es ist, in einer Familie aufzuwachsen.“

Aus diesem Grund habe er sich auch bewusst dagegen entschieden, eine eigene Familie zu gründen. „Ich habe es erlebt, dass Kinder ins Heim kamen, weil ihre Eltern – selbst Heimkinder – mit der Erziehung völlig überfordert waren. Das wollte ich niemanden antun“, gesteht er.

Mit seinem Leben sei er dennoch zufrieden. Er lebt mittlerweile in Magdeburg und arbeitet im öffentlichen Dienst.

Zum Heimgeburtstag ist er gekommen, um alte Bekanntschaften aufleben zu lassen. „Ich hoffe, heute mit Leuten von früher in Kontakt zu treten“, sagte Gerhard Blume.

Heimleiterin Jutta Lehmann konnte sich jedenfalls noch lebhaft an ihn erinnern. „Ich habe ihn immer ‚Blümchen‘ genannt“, berichtete sie lachend. „Aber das passt wohl nicht mehr. Jetzt ist er ein erwachsener Mann.“