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SchulpolitikUnterrichtsausfall und Lehrermangel

Um die Unterrichtsversorgung in Wernigerode ist es nicht zum Besten bestellt. Dies wurde Bildungsminister Tullner deutlich mitgeteilt.

Von Katrin Schröder 26.05.2017, 01:01

Wernigerode l „Keine Scheu!“ – das hat Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner (CDU) vor der Diskussionrunde im Wernigeröder Rathaus als Devise ausgegeben. Das nahmen die rund 150 Teilnehmer wörtlich und in der Debatte kein Blatt vor den Mund. Das Thema am Dienstagabend war brisant: die Unterrichtsversorgung in Wernigerode. Von den versammelten Eltern, Lehrern und Schülern erhielt der Minister ordentlich Gegenwind.

Hintergrund war die einwöchige Schließung der Francke-Grundschule aus Mangel an Lehrern Mitte März. „Das war der Supergau. Das darf nicht passieren“, sagte Tullner. Zugleich räumte er vor den rund 150 Zuhörern im Ratssaal ein, dass die Lage auch andernorts kritisch ist. „Die Not ist relativ groß, was die Unterrichtsversorgung angeht.“ Große Probleme gebe es in den Sekundarschulen, so der Minister.

Für die Debatte hatte er einige Zahlen für die Schulen im Stadtgebiet parat. Die Wernigeröder Burgbreite-Schule zum Beispiel habe Ende September eine Unterrichtsversorgung von 105,06 Prozent vorweisen können. Am 19. April war die Zahl auf 90,98 Prozent abgesunken – durch Krankheit, Elternzeit und Altersteilzeit. „Hier haben wir zwei Stellen zum neuen Schuljahr ausgeschrieben, eine Versetzung ist angedacht“, so Tullner.

Einen anderen Blick hat Elisabeth von Gynz-Rekowski. „Wir suchen Lehrer, finden aber keine“, sagte die Pädagogin, die an der Schule arbeitet. Sie betont: „Ich übe meinen Beruf sehr gerne aus, viele Kollegen sind mit Herzblut dabei.“ Doch die Bedingungen erleichtere ihnen die Arbeit nicht – zum Beispiel große Klassen, in denen Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf sitzen.

Personalmangel ist auch an anderen Schulen das große Thema – zum Beispiel an der Thomas-Müntzer-Schule, die mit 98,6 Prozent ebenfalls schlecht bei der Unterrichtsversorgung abschneidet. „Wir haben seit zirka 20 Jahren Probleme mit den Fächern Mathe und Physik“, sagte Schulleiter Helfred Hauk. In dieser Zeit habe er, selbst Lehrer für beide Fächer, keine neuen Kollegen mit dieser Kombination bekommen. Als sich vor zwei Jahren ein Pädagoge in die Altersteilzeit verabschiedete, stand Hauk ohne Fachlehrer da. Die Folge: „Die Klassen 7 und 8 hatten gar keinen Physikunterricht, die anderen nur noch 50 Prozent.“

Er selbst und sein Stellvertreter versuchten, die Lücke zu schließen – mit dem Ergebnis, dass Hauk binnen fünf Jahren geschätzt 350 Überstunden und sein Stellvertreter 250 Überstunden vor sich her schieben. „Seit zwei Jahren muss ich mich regelmäßig schriftlich dafür rechtfertigen, obwohl ich nicht dafür bezahlt werde“, so Hauk. Und die Schüler müssten sich trotz fehlender Vorbereitung den Prüfungen stellen.

Dass zu viel Unterricht ausfällt, beklagten ebenfalls Schüler des Stadtfeld- und Gerhart-Hauptmann-Gymnasiums (GHG). „Wie kann es sein, dass Schülern im Mai erklärt wird, dass ein Fach in den kommenden Jahren nicht mehr unterrichtet werden wird?“, fragte Stadtfeld-Gymnasiast Erik Baranski. Für rund 670 Schüler gebe es nur eine Lehrerin, die Geschichte bilingual auf Deutsch und Englisch unterrichte. Das ist noch nicht alles. „Seit Anfang April haben die neunten Klassen keinen Englischunterricht mehr“, berichtete eine junge Pädagogin.

Die Lage am GHG ist ebenfalls nicht rosig. „Es kommt vor, dass an einem Tag bis zu 75 Prozent des Unterrichts ausfällt“, berichtete Luca Siede, stellvertretender Schülersprecher am GHG. Dabei bestehe an der Schule eine Unterrichtsversorgung von 103 Prozent. „Das überrascht mich“, sagte Stefan Wohlgemuth. Der Pädagoge unterrichtet Religion und Musik am Gerhart-Hauptmann-Gymnasium. „Seit etwa zehn Jahren unterrichte ich Religion nicht, wie im Lehrplan vorgesehen“, sagte er. Statt zwei Stunden wie nötig wird wöchentlich nur eine Stunde gegeben. Ähnlich sehe es im Fach Musik aus. „Ein Schüler hat neun Wochen Ausfall nur durch diese beiden Fächer.“

An den Grundschulen sieht es nicht besser aus. „Wir haben längere Ausfälle, die keineswegs berücksichtigt werden“, sagte Mutter Ramona Schrader über die Diesterweg-Schule. Die Situation sei schwierig, über Unterrichtsausfall werde nicht mehr gesprochen, teils würden Klassen zusammengelegt. „Das Schulsystem wurde in den vergangenen Jahren so weit heruntergefahren, dass wir vor einem Scherbenhaufen stehen, den wir nur gemeinsam aufräumen können“, sagte Eva Gerth. Die Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beglückwünschte die Verantwortlichen der Francke-Schule zu ihrem „Mut“, in einer Zwangslage den Unterricht einzustellen. „Das sollte öfter passieren. Erst dann reagiert jemand.

Bildungsminister Tullner reagierte auf die zahlreichen Fragen und Stellungnahmen, warnte vor „Überforderung“ durch die Inklusion behinderter Schüler und betonte: „Ich kann jeden Lehrer, der in Rente geht, ersetzen. Keine Stelle fällt mehr weg.“ Es gebe zwei bis drei Bewerber pro Stelle. Dennoch sagte Tullner: „Ich werde Ihnen nicht versprechen können, dass wir alle Probleme lösen.“ Rico Wiecker, Vorsitzender des Stadtelternrats, beendete die Veranstaltung, aber nicht die Debatte: „Wir bleiben dran. Wir werden Sie beobachten.“