Der Paritätische warnt vor steigender Armut, doch nicht alle Experten sehen das so Was heißt hier arm?

29.04.2015, 01:25

Millionen arme Kinder, Rentner ohne Chancen auf soziale Teilhabe, abgehängte Langzeitarbeitslose - der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht Deutschland tief gespalten. Ist die Lage wirklich so dramatisch?

Welche Erkenntnisse hat der Sozialverband?
15,5 Prozent der Bevölkerung sind laut seiner Darstellung arm. Mit 12,5 Millionen Armen gebe es so viele wie nie seit der Wiedervereinigung. 15,4 Prozent der Unter-15-Jährigen lebten von Hartz IV - "und damit in bitterer Armut". In Rekordtempo rücke die Gruppe der Älteren in Richtung Armut.

Warum gibt es Kritik an der Darstellung?
Bei seinem Verständnis von Armut stützt sich der Verband auf die offizielle Statistik für das Risiko, arm zu werden - definiert als Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnitts. So viel oder wenig zu haben, ist nach Ansicht der Caritas und einiger Sozialforscher für manche aber wohl gar kein Problem. Für einen Alleinstehenden fällt man darunter, wenn man weniger als 892 Euro im Monat bekommt - somit sind zum Beispiel auch Studenten arm, die mit Eltern-Unterstützung von 750 Euro ohne weitere Geldsorgen studieren.

Was hält der Paritätische Gesamtverband dagegen?
Der Vorsitzende Rolf Rosenbrock kritisiert, für neoliberale Ökonomen seien Menschen erst dann arm, "wenn sie nicht genug zu essen und kein Dach über den Kopf haben".

Für ihn ist es durchaus aussagekräftig und ein Fortschritt der Zivilisation, Armut im Vergleich zur allgemeinen Einkommenentwicklung zu messen. Es gehe schließlich vor allem um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Beispiel der Studenten erkennt Rosenbrock an - nur fielen diese zahlenmäßig nicht ins Gewicht.

Führt die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu Armut?
In Deutschland gibt es mit leichten monatlichen Schwankungen einen Rekord bei den Jobs - mit derzeit 30,3 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aber 7,8 Millionen Menschen waren 2014 atypisch beschäftigt, also befristet, in Teilzeit oder mit geringem Lohn.

Von den 2,9 Millionen Arbeitslosen ist rund eine Million länger als ein Jahr ohne Job. Der hohe Sockel der Langzeitarbeitslosen sowie verbreitete prekäre Beschäftigung sind für den Paritätischen die Hauptgründe für Armut.

Sind mehrere Jobs immer ein Zeichen von Geldnot?
Zeitgleich mit dem Sozialverband ging am Dienstag das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln an die Öffentlichkeit - mit Angaben zu Nebenjobs. Sechs Prozent hatten zuletzt einen solchen Job. Laut IW aber bei weitem nicht alle, weil sie sonst nicht über die Runden kämen. Viele Teilzeitbeschäftigte seien mit dem Hauptjob auch einfach nicht ausgelastet oder hätten besonders teure Konsumwünsche.

Was folgen jetzt aus der Debatte über die soziale Lage für politische Konsequenzen?
Für den Paritätischen Verband ist klar, dass Armut vor allem im Alter stärker bekämpft werden muss - mit mehr Steuergeld von Wohlhabenden. Langzeitarbeitslose bräuchten einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor. Die Bundesregierung will aber keine Steuern erhöhen und peilt auch keine umfassende Reform der gesetzlichen Rente an. Langzeitarbeitslosigkeit will Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) aber besser bekämpfen - unter anderem durch "Aktivierungszentren" innerhalb der Jobcenter. (dpa)