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Tunesischer Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer Ein Schlupfloch im zaunfreien Raum

16.02.2011, 04:27

Von Steffen Honig

Der Umbruch in Tunesien, Vorbild für den Aufstand in Ägypten, wurde bisher in Europa mit einiger Sympathie verfolgt – im Fernsehen. Die Folgen bekommt nun der italiensche EU-Vorposten Lampedusa hautnah zu spüren. Weil in Tunesien die alte Staatsgewalt niedergerungen ist – was auf den Küstenschutz durchschlägt – wird die Insel von Flüchtlingen überrannt. Es ist, als ströme halb Tunesien durch dieses zaunfreie neue Schlupfloch in die Europäische Union.

Und schon wird heftig gestritten über Eindämmung und Bewältigung des neuen Flüchtlingselendes auf Lampedusa. Der italienische Staat hat den Notstand erklärt und ruft nach europäischer Unterstützung. Die können oder wollen die EU-Partner aber nicht in dem Umfang leisten, wie es notwendig wäre.

Menschenrechtsorganisationen pochen schließlich auf menschenwürdige Behandlung der Gestrandeten und juristisch einwandfreie Asylverfahren für jeden einzelnen Flüchtling. Und die Einwohner von Lampedusa wünschen sich wohl in dieser Lage am liebsten weit von ihrer Insel.

Augen zugedrückt

Die Flüchtlingskrise macht indirekt deutlich, warum die Europäer bei den Polizeistaatsmethoden des tunesischen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali stets beide Augen zudrückten: Der Diktator in Tunis hielt ihnen Flüchtlinge und islamische Extremisten vom Halse, Menschenrechte und demokratische Freiheiten hin oder her. Gleiches traf auf den inzwischen ebenfalls davongejagten ägytischen Führer Husni Mubarak zu und gilt bis heute für die Regimes in Algerien und Libyen.

Die Tunesier aber sind jetzt frei und nutzen das auf ihre Weise. Europa ist für sie der gelobte Kontinent, dort versprechen sie sich ein besseres Leben. Die heimische Revolution war zwar wichtig, doch ist sie kein Garant dafür, dass sich an den misslichen sozialökonomischen Verhältnissen zwischen Sousse und Touzeur in absehbarer Zeit etwas ändert.

Im Gegenteil: Die Nachwirren des Umbruchs sind dazu angetan, das tunesische Jammertal noch zu vertiefen. Denn wenn der Tourismus in den kommenden Monaten nicht wieder anzieht, wird sich auch eine frei gewählte Regierung in Tunesien wohl bald Hungermärschen gegenübersehen. Demokratie allein ersetzt kein Brot.

Die Regierung in Rom hat bereits drastische Maßnahmen gegen die friedliche Invasion der Nordafrikaner angedroht: Man werde italienische Polizisten nach Tunesien schicken, um die Flüchtlinge schon in der Heimat zu stoppen.

Das Ansinnen ist so angekommen, wie es wohl auch gemeint war. Tunesiens wacklige Übergangsregierung pochte umgehend auf die Souveränität des Landes und will nun selbst wieder für eine gesicherte Seegrenze sorgen. Wie, ist eher unklar.

Doch so oder so wird das Schlupfloch Tunesien wieder geschlossen werden. Wie es bei gleichgearteten Krisen noch immer gelungen ist. Das Instrumentarium dafür ist nicht fein: Bisher hat sich nur intensive Überwachung, zu Lande ergänzt durch Zäune und Mauern, als wirksames Mittel erwiesen, um den Flüchtlingsdruck auf Europa zu senken.

Am Zaun ist Schluss

Jüngstes Beispiel ist der zwölf Kilometer lange Zaun am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros, den die Griechen als letztes Mittel sahen, um den Flüchtlingsmassen den Weg über die Türkei nach Europa zu versperren. Das hat Athen eine Menge Kritik eingetragen, entspannt aber an der dortigen Grenze vorerst die Lage.

Gewiss steht die strenge Abschottung gegen Flüchtlinge im Widerspruch zu den offenen Gesellschaften, auf die die EU-Staaten stolz sind und die sie gern als Gesellschaftsmodell für diese Welt herausstreichen. Doch etwas anderes wird nicht funktionieren. Die Grenzschutzagentur Frontex soll es richten.

In den Mittelmeerländern von Spanien über Italien bis hin nach Malta und Griechenland schaffen immer neue Flüchtlingswellen durch wechselnde Löcher in der EU-Außengrenze schwerste soziale Probleme. Die wollen sich die europäischen Partner weiter im Nordeen gar nicht erst aufladen und wehren sich gegen die Aufnahme von mehr Illegalen.

Wie das wohl bei den revoltierenden Nordafrikanern ankommt? Vielleicht so: Ihr mutigen Tunesier, Ägypter und Algerier, Eure Demokratiebewegungen sind uns lieb und teuer. Aber nur, wenn Ihr nach der Revolution zu Hause bleibt!