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Vor 50 Jahren wurde der Architekt des Holocaust hingerichtet Massenmörder Eichmann war als Hühnerzüchter untergetaucht

31.05.2012, 03:18

Eine Handvoll Häuser an der Landstraße von Celle nach Bergen. Schön ist die Fahrt hierher durch den Süden der Lüneburger Heide. Im Schatten mächtiger Eichen ein Gehöft. Davor ein Fachwerkhaus - Stiefmütterchen hinter dem gepflegten Holzzaun, die Beete frisch geharkt, kein Unkraut. Idyllisch. Doch genau hier hat sich nach dem Krieg einer der Hauptverantwortlichen des deutschen Massenmordes an Millionen europäischen Juden als Hühnerzüchter versteckt: Ex-SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, Chef-Logistiker des Holocaust.

Eichmann kam im März 1946 mit gefälschten Papieren als Otto Heninger nach Altensalzkoth, nach seiner Flucht aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Ein Mithäftling hatte ihm die Adresse eines Revierförsters aus der Nähe zugesteckt. Er blieb vier Jahre, dann verschwand er über Nacht. Erst 1960 sahen die Einwohner ihn wieder - als Zeitungen und Fernsehen über den Prozess in Israel berichteten.

"Die meisten beschreiben ihn ja als freundlich. Für mich war er eher distanziert, sogar unnahbar", erinnert sich Heinz Krüger. Der 75-Jährige ist in Altensalzkoth aufgewachsen, nicht weit von dem Hof mit Eichmanns Hühnern. Heute lebt er in Hermannsburg. "Eichmann war ein Mensch, dem man aus dem Wege geht. Ich hatte nie ein gutes Gefühl. Das kann auch daran gelegen haben, dass wir Jungens ihm manchmal Streiche gespielt haben."

Der Hof gehört noch immer derselben Familie. Eine weißhaarige Frau öffnet die Tür, schon vorher hat sie kurz nach dem fremden Auto geschaut. Nein, sie will nicht über den Untermieter von damals sprechen: "Das ist abgehakt. Da ist doch alles gesagt", meint sie nur. Ein Abschiedsgruß, dann schließt sich die Tür.

Aus den Jahren in der Heide gibt es nur ein einziges Foto von Eichmann. Es zeigt ihn - das Gesicht lächelnd zu Boden geneigt - vor dem Gasthaus des Dorfes auf einer Hochzeitsfeier. Auf dem Foto ist - gleich rechts neben Eichmann - ein Schild zu sehen: "Gastwirthschaft Heinrich Helms". Das heutige Landhotel betreibt jetzt Enkel Manfred Helms. "Ich bin Jahrgang 58", sagt er, "vielleicht fällt es mir einfach deshalb leichter, über damals zu sprechen." Das Holzschild auf dem Foto hat er noch immer. "Manchmal nennen die Jäger das Restaurant noch ,Eichmann-Eck\', sonst ist das hier kein Thema mehr", sagt Helms.

Eichmann soll auch die jüdische Gemeinde in der alten Wehrmachtskaserne Belsen beliefert haben, wurde erzählt. In der Kaserne waren bis 1950 Überlebende von Bergen-Belsen untergebracht, allein bis zu 12000 Juden. Bis zum ehemaligen Konzentrationslager ist es nicht weit, Zehntausende sind dort gestorben, darunter auch die aus den Niederlanden verschleppte Anne Frank.

"Eichmann hatte weit über hundert Hühner, hätte aber die Eier und das Geflügel nie selbst verkauft - zu leicht hätte man ihn erkennen können", sagt die Hamburger Historikerin und Philosophin Bettina Stangneth. Die Vermarktung hätten andere übernommen. "Ganz sicher hat aber so die Nähe zu Bergen-Belsen ihm finanziell sogar genutzt."

Für ihr Buch "Eichmann vor Jerusalem - Das unbehelligte Leben eines Massenmörders" hat Stangneth die Jahre bis 1960 genauestens untersucht. Sie schildert ihn als Geige spielenden Charmeur, der manchmal den Kindern beim Lösen der Hausaufgaben half. Sonst hörte er - einziger Besitzer eines Radios im Ort - die Berichte über die Kriegsverbrecher-Prozesse in Nürnberg. "Eichmann war in Altensalzkoth auch deshalb so beliebt, weil er nicht getrunken oder gespielt hat", erklärt Stangneth. "Er lebte dort ein Parallelleben, eine Scheinexistenz - und das offenbar sehr überzeugend. Extreme Selbstkontrolle war Teil seiner Karriere - die jahrelange Übung hat ihm im Prozess nicht geschadet", urteilt die Historikerin.

Bevor er mit den Hühnern genug Geld für die Flucht nach Argentinien verdient hat, war Eichmann bis 1948 nicht weit von Altensalzkoth als Waldarbeiter beschäftigt. Mindestens einer der Waldarbeiter lebt noch. Am Telefon die Stimme einer alten Frau. Eichmann? "Dann schreiben Sie mal schön - aber nicht mit uns!" Klick. Nichts ist abgehakt, 50 Jahre nach Eichmanns Hinrichtung in Israel. (dpa)