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Marc Jonghbloet verlor seinen Onkel beim Massaker in Gardelegen: "Ich hasse Deutsche nicht" "Er soll hier bei seinen Freunden ruhen"

Von Gesine Biermann 15.04.2014, 03:26

Am Nachmittag des 13. April, dem Jahrestag des Verbrechens in der Gardeleger Feldscheune, sprach er vor vielen Besuchern der Gedenkveranstaltung - Stunden zuvor mit der Volksstimme: Marc Jonghbloet über Erinnerungen, ein schreckliches Bild im Internet und sein Verhältnis zu den Deutschen.

Gardelegen l Um es gleich vorweg zu nehmen: Nein, Marc Jonghbloet kann sich nicht mehr an seinen Onkel Frans erinnern. "Als ich geboren wurde, 1955, da war er ja schon zehn Jahre tot", sagt Jonghbloet. Und doch hatte ihn die Geschichte um den verschwundenen jüngsten Bruder seines Vaters offensichtlich nie losgelassen. Wie er ihn fand, vor rund fünf Jahren, erzählte der Belgier am Sonntag anlässlich des 69. Jahrestages des Massakers an der Gardeleger Feldscheune genau vor eben dieser Scheune, in der sein Onkel Frans sein Leben verlor, einem großen Publikum (wir berichteten):

Frans Jonghbloet war der jüngste Bruder seines Vaters André gewesen. Als dieser im Jahr 1942 heiratete, lebte der 17-jährige Frans noch im gemeinsamen Elternhaus, bis er am 30. Dezember schließlich nicht mehr nach Hause kam. An jenem Tag nämlich nahm ihn die Gestapo in seinem Heimatort Herentals fest: Er wurde verdächtigt, dem belgischen Widerstand, der Geheimen Armee (Geheim Leger), anzugehören. Frans wurde, 17-jährig, im Antwerpener Gefängnis inhaftiert. Und seine Familie sollte ihn nie wiedersehen - bis zu einem Tag im Jahr 2009, als sein Neffe Marc bei der Internetrecherche auf ein grausames Bild stieß.

"Ich kam nicht weit, weil mich schon das fünfte Bild tief erschütterte."

Ein damaliger Mitgefangener seines Onkels, dem kurz vor dem 13. April die Flucht gelang, hatte ihm nämlich über das Massaker von Gardelegen berichtet: "Im Internet fand ich die entsprechende Website, kam aber nicht weit, weil mich schon das fünfte Bild tief erschütterte." Jonghbloets Frau Urszula, die neben ihm saß, hatte plötzlich darauf gedeutet und gesagt: "Das ist Onkel Frans." Und je länger die beiden das Foto mit jenem verglichen, das sie noch von dem damals 17-jährigen fröhlichen jungen Mann besitzen, desto sicherer wurden sie. Eines der Fotos mit ermordeten Häftlingen, das amerikanische Kriegsberichterstatter am 14. April in und an der Gardeleger Feldscheune aufgenommen hatten, zeigte offensichtlich ihren Verwandten. "Selbst Kollegen von mir, die sich mit solchen Vergleichen auskennen - (Jonghbloet ist Polizist) - haben mir bestätigt, dass die Bilder dieselbe Person zeigen. Die Suche nach dem geliebten jüngsten Bruder seines Vaters war für Marc Jonghbloet an diesem Tag zu Ende gegangen.

André Jonghbloet hatte nur zwei Monate vor seinem Tod im Jahr 1991 das Lager Mittelbau-Dora besucht, in der Überzeugung, dies sei der Ort, an dem sein Bruder umgekommen war. In der steten Wut auf das Rote Kreuz, das der Familie bei der Suche nach dem Sohn und Bruder nie helfen konnte, war er schließlich zwei Monate nach dieser Reise gestorben.

"Es ist vielleicht gut, dass mein Vater das Bild im Internet nie sah."

"Es ist vielleicht gut, dass mein Vater das Bild im Internet nie sah", glaubt sein Sohn heute. Dennoch hätte Marc Jonghbloet seinen Vater gern über seinen größten Irrtum aufgeklärt. Das internationale Rote Kreuz hatte der Familie bei seiner Suche nämlich aus einem bestimmten Grund nicht helfen können: "Wir erfuhren ihn erst nach dem Tod unseres Vaters." Denn Frans Jongh-bloet fiel dem sogenannten Nacht-und-Nebel-Erlass zum Opfer (siehe Infokasten). Eine weitere Perversion Hitlers, in der er verfügte, dass Gefangene keinen Kontakt zu ihrer Familie halten durften. Im Falle des Todes eines Nacht-und-Nebel-Häftlings wurden Angehörige auch nicht benachrichtigt.

Den grausamen Weg seines Onkels durch verschiedene Lager bis nach Gardelegen konnte der Neffe nur nachvollziehen, weil er nie aufgab. Hilfe erhielt er unter anderem vom ITS (International Tracing Service). Die Gesellschaft sandte ihm auf Nachfrage eine Transportliste, die die verschiedenen Stationen von Frans Jonghbloet nachwies. Belgische Überlebende, die ebenfalls auf der Liste standen, denen kurz vor dem Massenmord in der Scheune aber die Flucht gelang, gaben ihm schließlich den entscheidenden Tipp mit der Bezeichnung "Gardelegen". Ein Ort, den die Familie Jonghbloet von nun an immer mit dem Mord an ihrem Familienmitglied in Verbindung bringen wird.

Hass auf die Deutschen ist den Belgiern dennoch fremd: "Es ist nur einer schuld, das ist Hitler", sagt Marc Jonghbloet. Und dass viele nicht eingriffen, nur zusahen? "Das hätte in Belgien ebenso passieren können", ist er überzeugt.

Für die Familie begann die Trauer 2009 auf eine neue Weise. "Ich habe ihn gefunden und das ist gut", sagt der Neffe. Am Anfang habe er auch überlegt, die Leiche nach Belgien zu überführen. "Aber dann habe ich mir gesagt: Er ist hier mit seinen Freunden gestorben, er soll hier bei seinen Freunden ruhen."

Zudem hat Marc Jonghbloet in dem Ort, an dem sein Onkel starb, auf eine besondere Weise nun auch selbst Freunde gefunden. Insbesondere Torsten Haarseim, Mitglied des Fördervereins der Mahn-und Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune, der sich sehr für die Aufnahme von Frans Jonghbloet ins Totenbuch der Gedenkstätte einsetzte, wurde für die Familie zu einem besonderen Menschen, dem Jonghbloet - neben seiner Frau und anderen Helfern - sehr herzlich dankte. Und das ist vielleicht die beste Nachricht von allen.