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Einwohner feiern Grenzöffnung im Okertal vor 25 Jahren Die Erinnerungen verschwimmen

So viele Menschen wie zur Grenzöffnung vor 25 Jahren hat Wülperode
danach nie wieder gesehen. Am Sonnabend kamen Einwohner wieder mit ihren
niedersächsischen Nachbarn aus Wiedelah zusammen.

Von Mario Heinicke 16.02.2015, 02:39

Wülperode l Das Wetter war wie am 10. Februar 1990. Sonnenschein, Blick zum Brocken. Rund 40 Wülperöder folgten im Umzug dem Spielmannszug Stapelburg zur eineinhalb Kilometer entfernten Landesgrenze. 40 Leute hören sich nicht viel an. "Ich bin zufrieden", sagte Ortsbürgermeister Dirk Heinemann (SPD). Denn das Dorf hat nur 207 Einwohner. Und von den Zeitzeugen lebt vielleicht noch die Hälfte im Ort. Dazu gehört Heidelore Lugauer. In den letzten Tagen dachte sie öfter an jenes Großereignis vor 25 Jahren. Nach der feierlichen Grenzöffnung durch die Bürgermeister Johannes Bienert (Wiedelah) und Bernd Klamert (Wülperode) zogen die Menschenmassen nach Wülperode in die Gaststätte. "Man hatte den Eindruck, als die ersten in Wülperode ankamen, konnten die letzten an der Grenze erst losgehen, so lang war die Schlange", sagte Lugauer. Man sprach seinerzeit von 3000 Leuten. Auch viele ehemalige Wülperöder waren darunter. "Wir Frauen haben das Essen vorbereitet." Von überallher wurden dafür Lebensmittel gespendet.

Der idyllische Ort im Okertal, der fünf Jahre später zum schönsten Dorf Sachsen-Anhalts gekürt wurde, lag - damals unter dem Namen Dreirode - unmittelbar am Grenzzaun. Hinterm letzten Haus der Dorfstraße war die Welt zu Ende. Werner Plettner hat in den letzten Jahren so einige Führungen für Touristen durch Wülperode geleitet. "Die Gäste interessiert weniger, in welchem Jahr ein Haus gebaut wurde. Sie wollen wissen, wie hier das Leben war."

Und das gerät schneller in Vergessenheit als man denkt. Allein die Frage, wie es sich mit dem Grenzübergang verhielt, erzeugte am Sonnabend unterschiedliche Erinnerungen bei den Zeitzeugen. Der Übergang war anfangs nur für Fußgänger und Radler offen, und das auch nur am Wochenende. Dann durfte man tagsüber rüber, ab Anfang Juli auch offiziell mit Auto. Eine Grenzöffnung in Schritten. Die Wiedelaher um ihren Bürgermeister Johannes Bienert, der am Sonnabend nicht dabei sein konnte, hatten dazu Entscheidendes beigetragen. "Er hat mir oft erzählt, welche Verhandlungen er geführt hat, um die Behörden von der Notwendigkeit zu überzeugen", sagte Dirk Heinemann. Auch Bienerts Nachfolger Hans-Joachim Michaelis (CDU) sprach von "schwierigsten Verhandlungen".

Wülperöder Männer, darunter Werner Plettner und Heinz Langelüddecke, hatten am Vorabend des 10. Februar den 3,50 Meter hohen Zaun an der Grenze abgeschraubt, während die Niedersachsen den Sperrgraben verfüllten und die fehlenden hundert Meter der alten Landstraße bauten.

Vor dem 10. Februar waren die Wülperöder freilich längst im Westen gewesen. Über Stapelburg, Hessen und später Lüttgenrode war das möglich. Und "illegal" auch in der Neujahrsnacht. Da hatte irgendjemand neben dem Tor an der Dorfstraße ein Zaunfeld gelöst. Durch das Loch gingen mehrere Einwohner ins Grenzgebiet, auch im letzten Zaun war ein Loch. So begrüßten Wülperöder und Wiedelaher im Westen in der "Eckerklause" gemeinsam das neue Jahr 1990.

Ein Stück Grenzzaun mit Fahrzeugsperrgraben steht heute noch zwischen beiden Dörfern. In den letzten Monaten war hier zum bevorstehenden Jubiläums aufgeräumt worden. Dass die Anlage seinerzeit nicht abgerissen wurde, ist auch Heinz Langelüddeckes Tochter Ines zu verdanken, die darüber eine Geschichtsarbeit schrieb und bundesweite Anerkennung erfuhr. "Das Mahnmal soll uns an die schreckliche Zeit des geteilten Deutschlands erinnern", sagte Hans-Joachim Michaelis. Er nahm das Treffen, das nach den Gedenkreden an der Grenze in Wiedelah fortgesetzt wurde, zum Anlass, "an unserer Nachbarschaft zu arbeiten". Die engen Kontakte der Nachwendejahre hätten sich etwas abgeschwächt. "Wir sollten sie wieder intensivieren. Denn wir wissen noch nicht genug voneinander."