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Der Prozess am Stendaler Landgericht gegen einen Havelberger Zahnarzt ist fortgesetzt worden Den Bohrer im Kiefer vergessen

Von Wolfgang Biermann 18.05.2013, 01:08

Für alles hat Zahnarzt Thorsten S. aus Havelberg, der wegen des unnötigen Ziehens von elf Zähnen bei einer 41-Jährigen vor Gericht steht, eine Erklärung. An nichts will er schuld gewesen sein. Kollegen, Arzthelferinnen und vor allem Patienten schiebt er die Alleinschuld zu.

Stendal/Havelberg l "Ich war unorganisiert", ist das Einzige, was er sich als Schuld zurechnet. Dabei besitzt der 42-Jährige eine lange Reihe an Vorverurteilungen, teils gegen Geldauflage eingestellte Ermittlungen und Zivilprozesse sowie berufsständische Verfehlungen, die wohl jedem Kleinganoven zur Ehre gereichen würden.

Zwei Stunden lang hat der Vorsitzende Richter Gundolf Rüge am dritten Prozesstag aus Ermittlungs- und Prozessakten gelesen. Das Landeskriminalamt (LKA) in Berlin, wo S. bis 2003 lebte und arbeitete, hat von 1995 bis 2001 sechs Einträge vermerkt: Von Drogen, Bedrohung, Beförderungserschleichung, Ladendiebstahl, Tank- und Kreditbetrug ist darin die Rede.

Angeklagter ist sieben Mal vorbestraft

Die damalige Polizeidirektion Stendal meldete Ermittlungen wegen Bedrohung und Kindesentzug. Ein Verfahren wegen unberechtigten Führens des Doktortitels wurde gegen Zahlung von 2000 Euro eingestellt. Seine Doktorarbeit sei "fast fertig gestellt gewesen", leider aber nur fast. Vorbestraft ist er wegen Rauschgiftbesitz in sieben Fällen, Betrug im Zusammenhang mit Arbeitslosengeldbezug, Abrechnungsbetrug wegen nicht erbrachter zahnärztlichen Leistungen und unnötigem Ziehen von 20 Zähnen bei einem 20-Jährigen.

Mit keinem Zahnarzt in Sachsen-Anhalt gebe es laut Kassenzahnärztlicher Vereinigung (KZV) in Sachen Abrechnung so viel Trouble wie mit Thorsten S. - auch Urteile wegen Abrechnungsbetrug sind darunter. Gleichwohl er in Insolvenz ist, praktiziert er weiter, sprechen er und seine Verteidiger von einer langen Reihe zufriedener Patienten.

Etwa ein halbes Dutzend dokumentierte zivilrechtliche Streitigkeiten sprechen laut Richter Rüge indes eine andere Sprache. In einem Fall fand die Zahnklinik Schwerin einen offenbar von ihm vergessenen Zahnbohrer im Kiefer eines Patienten. Die Mehrzahl endete mit Vergleichen - S. zahlte Schmerzensgeld und Schadensersatz.

"Hang zur Negierung der Gesetzlichkeiten"

Im September 2011 entzog ihm das zuständige Landesverwaltungsamt in Halle auf Antrag der KZV die Approbation, also die Zulassung als Zahnarzt arbeiten zu dürfen, nachdem er diese schon drei Monate ruhen lassen musste. Das Landesverwaltungsamt begründete das unter anderem damit, dass S. "charakterlich ungeeignet" sei, seinen Beruf auszuüben. Außerdem wurde ihm ein "Hang zur Negierung der Gesetzlichkeiten" attestiert. Und er habe "dem Ansehen des zahnärztlichen Standes schwer geschadet". Das Verwaltungsgericht Magdeburg bestätigte Ende April die Rechtmäßigkeit des Approbationsentzugs.

"Natürlich werden wir dagegen Berufung einlegen", sagte Verteidigerin Barbara Gülzow auf die entsprechende Frage von Richter Rüge.

Am Dienstag ging es auch noch um das nachträgliche Auftauchen von Operationsberichten. Derartige Berichte kenne sie nicht, sagte eine 26-Jährige, die von Dezember 2009 bis September 2010 für S. als Zahnarzthelferin tätig war. In ihrer Zeit, darin fiel auch die Entfernung der elf Zähne im Krankenhaus Seehausen durch S., seien die OP-Daten in die Patientenakte eingetragen worden. Sie blieb auch auf eindringliche Nachfrage der beiden Verteidiger dabei.

Die Professoren für Zahnchirurgie bzw. -prothetik von der Universitätsklinik Halle, Jürgen Setz und Johannes Schubert, trugen in ihren Gutachten vor, dass etliche der gezogenen Zähne vermutlich erhaltungswürdig gewesen seien. Von den jetzt aufgetauchten OP-Berichten hätten sie zur Erstellung ihrer Gutachten keine Kenntnis gehabt. Und sie hätten es auch nicht geschafft, in 55 Minuten alle Zähne zu ziehen, wie es S. tat. Geplant hatte er 90 Minuten. Sie hätten bis zu vier Stunden dafür veranschlagt. Zumal S. ja eigentlich auch noch alternativ Zahnsanierungen bei der 41-Jährigen vornehmen wollte.

Einvernehmlich schloss Richter Rüge am Dienstag die Beweisaufnahme.

Zuvor hatte Anwältin Gülzow einen Hilfsbeweisantrag gestellt. Sie will, sollte S. verurteilt werden, durch einen Sachverständigen die Glaubwürdigkeit der 41-jährigen Patientin untersuchen lassen. Plädoyers und Urteil werden für den 22. Mai erwartet.