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Irmgard Cotte saß während des Bombardements in einem Bunker an der Hoyersburger Straße / Nach dem Angriff rannte sie zum Bahnhof Zwei Freundinnen finden toten Bahnhofsvorsteher

21.02.2015, 01:17

Irmgard Cotte war 15 Jahre, als am 22. Februar 1945 aliierte Bomber Salzwedel angriffen. Sie war als eine der Ersten am Bahnhof, weil ihre Freundin dort wohnte. Die Volksstimme veröffentlicht Auszüge aus den Erinnerungen, die Irmgard Cotte zu Papier gebracht hat.

Wir hatten an dem Vormittag im Mathematik-Unterricht, und es war uns eine Arbeit angekündigt, der wir mit Bangen entgegensahen. Da war es fast eine Erlösung, als die Sirenen Voralarm verkündeten. Da bisher Salzwedel noch von keinem direkten Angriff betroffen war und ohnehin häufig Alarm oder Voralarm gegeben wurde, wenn die Flugzeuge der Amerikaner über Salzwedel hinwegflogen, um einen Angriff auf eine der Großstädte zu fliegen (zuletzt häufig sogar mehrmals in der Nacht), nahmen wir den Voralarm nicht besonders ernst. Meine Freundin und ich baten Fräulein Mahn, ob wir nicht nach Hause gehen könnten, denn unsere Mütter würden sich große Sorgen machen. Ich wohnte damals an der Hoyersburger Straße, meine Freundin auf dem Hauptbahnhof. Ihre Eltern bewirtschafteten den Wartesaal. Da viele Flüchtlinge und vor allem Ausgebombte unterwegs waren, war der Wartesaal immer überfüllt, weil jeder zwischen den Abfahrtszeiten versuchte, etwas warmes zu essen zu erhalten.

... An der Ecke Bahnhof-/Hoyersburger Straße stand eine alte Linde. Ich erinnere mich, dass wir dort nach der Schule immer mehrmals herumliefen, ehe wir uns trennten. Wir dachten noch daran, dass wir am nächsten Tag zum Bahnhofsdienst eingeteilt waren. Die Mitglieder der Hitlerjugend und des Bund Deutscher Mädel gaben dabei Getränke an den einfahrenden Zügen mit Flüchtlingen, Evakuierten und Bombengeschädigten aus.

Kalte Winternächte im Bunker

Wie ich schon erwähnte, wohnte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester an der Hoyersburger Straße, einer Betriebswohnung der Zuckerfabrik. Für die Bewohner der betriebseigenen Häuser hatte die Zuckerfabrik einen Bunker erbaut, den wir bei Alarm aufsuchen mussten. Es war eine in die Erde gegrabene Röhre, die zirka zwei Meter hoch war. In der Mitte konnte man gut stehen, obwohl über dem Boden ein Lattenrost lag, damit man - vor allem im Winter - durch die kalte Röhre keine kalten Füße bekam. An den Seiten waren schmale Lattenbänke befestigt, auf denen wir saßen. Die Röhre hatte seitliche Ableger und sehr massive Stahltüren. In Abständen, vor allem dort, wo die Seitenröhren abzweigten, befanden sich Pumpen für die Sauerstoffversorgung. Wenn der Alarm länger dauerte, mussten wir Jugendliche diese Pumpen betätigen, was ganz schön Kräfte kostete. Ich erinnere mich noch immer mit Grauen daran, wenn im Winter nachts die Sirenen tönten und wir aus dem warmen Bett noch schlaftrunken uns schnell das Nötigste anzogen und in den kalten Keller eilten. Übermüdet haben wir vor Kälte geklappert, denn die wenigen Heizröhren reichten nicht aus, die Gänge zu erwärmen.

Am 22. Februar war ich mit meiner Mutter kaum im Luftschutzraum, als der Boden unter uns wankte. Das Licht flackerte noch, ehe es erlosch und wir völlig im Dunkeln saßen. Wir hörten auch dumpfe Geräusche, die aber durch die dicken Wände gedämpft waren. Als es ein bisschen ruhiger geworden war, öffnete der Luftschutzwart die schwere Tür und meldete, dass wohl der Bahnhof getroffen sei. Natürlich machte ich mir große Sorgen um meine liebe Freundin Marga, die ja direkt auf dem Bahnhof war. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, weil die zweite Angriffswelle kam.

Durch den Stromausfall konnten die Sirenen nicht heulen, sodass niemand wusste, wann der Angriff vorbei war. So mussten wir noch eine Weile ausharren, ehe wir den Keller verlassen durften. Doch dann hielt mich nichts mehr. Ich rannte los zum Bahnhof, um nach meiner Freundin zu sehen. Zum Glück war ihr und ihren Angehörigen nichts passiert. Lediglich ihr Vater hatte starke Prellungen, als er von der Druckwelle einer explodierenden Luftmine zu Boden gerissen wurde.

Ein Teil der Wohnung meiner Freundin war zerstört. Der große Kachelofen im Schlafzimmer wurde durch die Druckwelle umgeworfen und lag auf dem Bett. Nachdem wir die Schäden in der Wohnung gesehen hatten, streiften wir durch die Keller, die sich unter dem Bahnhof befanden. Sie waren heil geblieben. Wir gingen bis zur Rückseite des Bahnhofs. Dort auf der letzten Treppe lag der Bahnhofsvorsteher Herr Hinterhölzl. Er war tot. Auf der letzten Stufe der Treppe war er noch von einem Stein oder Splitter im Nacken getroffen worden. Wir kannten Hinterhölzls gut und waren vor Schreck erstarrt. Wir haben uns bei der Hand genommen und sind still zurückgegangen. Dort kam uns Frau Hinterhölzl entgegen und jammerte: " Kinder, habt`s nicht mei Mann g`sehn?" Wir konnten nichts sagen und blieben zitternd stehen, bis wir sie schreien hörten, als sie ihren Mann gefunden hatte.

Bahnhofsdienst: Alle Jugendlichen tot

... Die an diesem Tag zum Bahnhofsdienst eingeteilten Jugendlichen sind in der Baracke, wo sie sich aufhielten, ums Leben gekommen. Der Gedanke, dass das am nächsten Tag unser Schicksal gewesen wäre, hat mich und meine Freundin sehr betroffen gemacht. Die schrecklichen Bilder von den vielen Toten haben sich in mein Gedächtnis gebrannt und dafür gesorgt, dass ich an diesem Tag auf einen Schlag erwachsen wurde.

In meiner Erinnerung sehe ich noch heute viele Tote, die auf den Bürgersteigen lagen, zum Teil auch abgerissene Glieder. ... Inzwischen war der Krieg vorbei und es gab so vieles aufzuräumen. Die Temperaturen stiegen, und es stank infernalisch aus den Trümmern. Als ich eines Tages dort vorbeiging, stand eine Krankenschwester dort. Neben ihr stand ein Eimer. Sie selbst hielt etwas in der Hand, und mit Entsetzen sah ich, dass es lange Haare waren, an denen anscheinend noch Hautfetzen hingen. Man hat damals die Überreste aus dem Bunker (auf dem Bahnhofsvorplatz, Anm. d. Redaktion) geborgen, um an Ringen oder dergleichen die Toten identifizieren zu können. Das war besonders schwierig, weil viele Durchreisende, Flüchtlinge und Ausgebombte unter den Verstorbenen waren, die oft von den Angehörigen nicht in Salzwedel vermutet wurden.