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Einsatz am Hindukusch von Oktober bis Marz 2007/2008 und 2009/2010 – ein Soldatenporträt Angst – im Camp dein ständiger Begleiter

Von Julia Ehlers 10.02.2011, 04:29

Oberfeldwebel André war im Feldlager Kundus, Afghanistan, stationiert. Er erzählt von Arbeiten in der Camp- Werkstatt, Raketenangriffen und wie er die Einsätze überlebt hat – mehrmals, mit Gott an seiner Seite.

Schönebeck. Wer nach Afghanistan geht, schreibt vorher sein Testament – ein Soldaten-Brauch. Genauso hält es Oberfeldwebel André, wenn er am Hindukusch stationiert ist. Der 33-Jährige hat seine Gründe: Die Raketen der Taliban, die durch die Nacht zischen. Dröhnend ins Camp einschlagen. Die Hektik, das Adrenalin, das durch den Körper schießt, wenn die Sirene schrillt. Das Auf und Ab zwischen Bangen und Hoffen im Schutzraum, dass den Kameraden nichts geschehen ist – er hat es erlebt.

Oberfeldwebel André war als Reservist im Camp Kundus: Der Flug in diese andere Welt dauert über sechs Stunden, 42 000 Kilometer entfernt von der Heimat. Seiner Heimat – ein Haus in Schönebeck/Felgeleben. Im Wohnzimmer stehen dunkle Möbel, eine Standuhr tickt und gongt mit einer anderen Uhr um die Wette. Der Soldat schenkt Kaffee in feine Porzellantassen. Er hat gepflegte Hände, an der linken einen Siegelring. Unter dem blauen Hemd zeichnet sich eine kräftige Statur ab, im Nacken ist die Kette der "Hundemarke" zu sehen.

"Manchmal vergesse ich es, die Erkennungsmarke abzunehmen"

Legt der Oberfeldwebel sie nie ab? "Zu Hause trage ich die Erkennungsmarke normalerweise nicht. Ich habe sie nach einer offiziellen Kranzniederlegung vergessen abzunehmen", sagt er fast entschuldigend. Die Marke ist zu einem Teil von ihm geworden. Der Soldat wirkt zurückhaltend, fast schüchtern. Ein Eindruck, der täuscht. Sobald Oberfeldwebel André vom Feldlager erzählt, geht er aus sich heraus, lacht, gestikuliert.

Ein Freund aus dem Schützenverein brachte den gelernten Tischler auf die Idee, sich freiwillig für die Camp-Werkstatt zu melden. Vier junge Afghanen sind ihm in der Werkstatt unterstellt. "Wir bauen Möbel fürs Stabsgebäude und für eine kriegsgeschädigte Moschee, stellen Zelttüren für das Feldlager her", sagt der Soldat. "Die Jungs", wie er die 22- bis 25-jährigen Afghanen nennt, rufen ihn heute noch in Deutschland an: "André, wann kommst du wieder?", fragen sie dann. "Ich denke, dass es an meinem Motto liegt: Arbeit muss gemacht werden, aber Arbeit muss auch schmecken." Das bedeutet für Oberfeldwebel André: demonstrieren, Fehler machen lassen, Hilfestellung geben – anleiten, ohne zu schulmeistern. Und seine Freizeit auf dem Stützpunkt zu opfern. Einmal pro Woche übt der Soldat mit den Jungs Deutsch. Der Lohn ist das Vertrauen der jungen Männer, die Einblicke in ein fremdes Leben. Sie zeigen Fotos ihrer Familien. Erzählen, wie es ist, wenn einer die Wahl seines Vaters heiraten muss – eine Frau, die er noch nie gesehen hat. "Das mag ich so sehr am Soldat-Sein: Die anderen Kulturen kennenzulernen." Im Fernsehen werden die Einheimischen gerne als misstrauisch und verschlossen dargestellt. Oberfeldwebel André hat ein offenes, herzliches Volk getroffen, das gerne lacht.

Soweit die eine Seite von Afghanistan. Sprengstofffallen auf Patrouillen, verwundete Kameraden, Angriffe auf das Camp – das ist die die andere. Oberfeldwebel André hat keinen direkten Feindkontakt. Kommt nicht in die Situation: er oder ich. "Ich bin froh, dass ich bisher andere Aufgaben hatte." Der Reservist zuppelt an den Fransen seiner Tischdecke, hebt einen kleinen Krümel auf. "Ich würde auch kämpfen, wenn der Befehl dazu käme."

"Tagsüber Bauer, nachts könnte der Mann dein Camp bombardieren"

Das schwierige in Afghanistan: "Die wenigsten Taliban verstecken sich irgendwo". Im Gegenteil: "Da kann ein Bauer, der tagsüber gebückt auf seinem Feld arbeitet, nachts deinen Stützpunkt mit Raketen bombardieren." Ob sich Hass entwickelt? Oberfeldwebel André verneint. Natürlich sitzen die Kameraden abends mal zusammen und schimpfen auf die Taliban. Ein Gefühl von Hass ist bei ihm nie aufgekommen.

Anders als die Angst. Sie ist beim Leben im Camp ein ständiger Begleiter. "Du musst sie als Gegebenheit hinnehmen." Nicht alle können diese Last tragen. Im Oktober 2007 ertönt nachts wieder die Sirene: Alarm. Raketenangriff. Drei weitere Geschosse der Taliban folgen. Fliegen durch die Nacht, sollen Soldaten im Camp Kundus töten. Eine Rakete schlägt zielgenau in der Küche ein, niemand wird verletzt. Einige Kameraden verkraften die Attacke nicht, sie müssen heimfliegen. Unauffällig faltet der Reservist die Hände unter dem Esstisch. "Möglicherweise bin ich nicht so nah am Wasser gebaut."

Nur einmal wirft es auch Oberfeldwebel André aus der Bahn: Bei den Angriffen am Karfreitag 2010 kommen Kameraden ums Leben. Einen kennt der Soldat aus der Werkstatt – wie er ein gelernter Tischler. "Das war ein seltsames Gefühl", sagt Oberfeldwebel André mit gesenkter Stimme. Er weicht dem Blickkontakt aus, schaut auf die Tischdecke. "Das macht betroffen." Ein kurzes Innehalten, nur das Ticken der Wohnzimmeruhren ist zu hören. "Hier zu Hause kann mir ja auch etwas passieren", sagt er. Die Stimme klingt eine Spur zu sorglos. Er weiß, dass der Vergleich hinkt.

Egal, ob am Hindukusch oder in Schönebeck: Oberfeldwebel André fühlt sich beschützt. "Der Herrgott passt auf mich auf." Diesen Leitsatz verewigte er 2009: Der Soldat ließ sich mit dem Spruch "Der Herr ist mein Hirte, es wird mir an nichts mangeln" taufen. Der Entschluss stand schon lange fest. Vor dem Afghanistan-Einsatz war es dann der richtige Moment für die Taufe. Falls etwas passiert, möchte Oberfeldwebel André als Christ sterben. "Ich bin sehr gläubig", sagt er ernst. "Natürlich hoffe ich, dass ich in den Himmel komme", fügt er schmunzelnd hinzu. Auf mögliche Talismänner angesprochen, springt Oberfeldwebel André auf. Greift in eine Kommode und legt mit einer liebevollen Geste zwei Engel auf den Tisch. Der eine ist ein Taufgeschenk von "meinem Pfarrer Beyer". Der kleine Metallengel war in Afghanistan sein ständiger Begleiter, direkt am Herzen des Soldatens – in der Brusttasche. Ein Begleiter, der immer an Zuhause, an Deutschland erinnert.

"Ich habe noch keinen Einsatz bereut"

Fünf Monate Afghanistan können lang sein. Können. "Ich bin gerne Soldat." Das einzige, was Oberfeldwebel André wirklich fehlt, ist die Privatssphäre: Nie richtig allein zu sein, wenn man er möchte. Nicht einfach einen Fernsehabend zu machen, wenn einem danach ist. Aber vermissen? "Vielleicht bin ich da nicht so", wiegelt er ab. "Ich komme ganz gut damit zurecht, von meiner Familie getrennt zu sein." Einmal die Woche telefoniert der Soldat mit seinen Eltern und Freunden. Dass der Sohn, der Freund ein halbes Jahr weg ist, ist normal geworden in Schönebeck. "Ich habe noch keinen Aufenthalt bereut." Diese Einsätze bringen ihm Abwechslung.

Der Schritt aus dem Alltagstrott ist so groß, dass das Ankommen in Deutschland schwerfällt: Am Anfang zuckt er bei lauten Geräuschen zusammen. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Angriffe der Taliban im Camp. Es fühlt sich unwirklich an, wenn er das Auto selber fährt. Fünf Monate saß er nicht am Steuer, wurde von Kameraden über Schotterpisten manövriert. "Das geht vorbei", sagt der Soldat grinsend.

Ein bis zwei Wochen dauert es, bis Oberfeldwebel André wieder Zivilist ist. Die Rückkehr beginnt wie der Einsatz mit einem Ritual: Wer den Soldaten vom Flughafen abholt, muss ihm eine Flasche Hasseröder mitbringen. Dann wird das Testament verbrannt. Bis zum nächsten Einsatz – vorraussichtlich schon wieder Ende diesen Jahres.