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Innenminister Holger Stahlknecht möchte bei kleinen Blechschäden keine Beamten mehr losschicken / Anwälte haben Bedenken Unfall: Wenn\'s kracht und keine Polizei kommt

Von Matthias Fricke 26.02.2013, 02:19

Polizisten können sich nicht um jeden Parkrempler kümmern, meint Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) und stellt das Einsparpotenzial zur Diskussion. Der Gesamtverband der Versicherer pflichtet ihm sogar bei. Eine polizeiliche Unfallaufnahme sei oft gar nicht nötig. Doch ist es wirklich so einfach? Eine Blechschadensanalyse.

Magdeburg l "Das gibt es doch gar nicht", sagt Claudia Britze und sieht auf den Lackschaden an ihrem neuen weißen Citroën. Ein Jaguarfahrer ist mit seinem Wagen auf dem Domplatz beim Einparken gegen ihr Auto gerempelt. Der Fahrer hatte aber schon selbst die Polizei gerufen.

Alltag für Polizeiobermeisterin Melanie Ziegler und Polizeihauptmeister Klaus Wegener vom Magdeburger Verkehrsunfalldienst. Die Beamten kommen immer, wenn sie gerufen werden. Auch wenn der Kratzer noch so klein ist.

"Das ist zurzeit die gültige Erlasslage im Land Sachsen-Anhalt", sagt die Beamtin. Und eine Unfallaufnahme könne schließlich jeder Polizist. Das gehört zur Grundausbildung.

Im Durchschnitt kracht es in Sachsen-Anhalt etwa 209-mal am Tag, von der Minibeule bis zum schweren Zusammenstoß.

Wenn es nach Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) geht, sollten die Bürger die kleinen Blechschäden bald selbst aufnehmen. Es sei zumindest Sache der Versicherungen, eine Regelung zu finden.

"Die Art und der Umfang der potenziellen Entlastung kann natürlich erst nach der Debatte seriös dargestellt werden", meint er vorsichtig. Er ahnt offenbar, welche "Rempler" er sich unter den Autofahrern des Landes mit dem "Diskussions-Vorstoß" einhandeln könnte.

"Wir haben auch schon die eine oder andere Leiche im Kofferraum entdeckt."

Uwe Petermann, Gewerkschaft der Polizei (GdP)

Denn Sachsen-Anhalt gehört noch zu dem überwiegenden Teil der Bundesländer, die die Polizei auch zu jeder Mini-Beule ausrücken lassen.

"Die Bürger sind dafür auch sehr dankbar. Wenn wir am Unfallort sind, herrscht oft Erleichterung. Es ist ja auch logisch. So etwas ist immer eine Ausnahmesituation", meint Unfallbeamtin Melanie Ziegler.

Nach Meinung der Polizei müsse dieser Service auch dringend erhalten bleiben. Uwe Petermann von der Gewerkschaft der Polizei (GdP): "Es ist absoluter Unfug, diese Grundaufgabe nicht mehr erfüllen zu wollen, und wir lehnen den Verzicht der Aufnahme von Bagatellunfällen schlichtweg ab."

In vielen Fällen decke die Polizei bei der Unfallaufnahme auch weitere Ordnungswidrigkeiten und sogar eine ganze Reihe von Straftaten auf. "Ich denke da nicht nur an das Fahren unter Alkohol oder Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz. Wir haben auch schon die eine oder andere Leiche im Kofferraum entdeckt", erklärt Petermann. Die Polizei sei außerdem nach dem Gesetz über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle zur Erfassung von Daten zur weiteren Vermeidung von Unfällen verpflichtet.

"Für den Bürger ist der Unfall immer eine besondere Belastung. Und er kann von der Polizei Hilfe erwarten, um seine Rechte zu wahren", sagt er. Der Beamte fürchte außerdem einen erheblichen Imageschaden für die Polizei, wenn diese sich dieser Grundversorgung entziehen würde.

Ähnlich sieht es auch sein Kollege von der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG, Wolfgang Ladebeck: "Es ist erwiesen, dass bei der Unfallaufnahme durch die Polizei bis zu 30 Prozent weitere Straftaten aufgedeckt werden." Es sollte auch nach seiner Meinung das Recht der Bürger bleiben, die Polizei zu rufen. Gerade dieses Gebiet sei bürgernahe Polizeiarbeit. "In keinem anderen Bereich kann die Polizei durch ihr Handeln soviel Ansehen gewinnen wie dabei", meint er.

Eine ganz andere Haltung im Streit um die selbständige Unfallaufnahme nimmt der Gesamtverband der Versicherungen mit Sitz in Berlin ein. "Bei dem überwiegenden Teil aller Blechschäden ist eine polizeiliche Unfallaufnahme völlig überflüssig und gar nicht nötig. Uns reichen im Prinzip nur die Beantwortung der fünf W-Fragen (wann, wer, wo, wie, warum), eine Skizze und ein aussagekräftiges Foto. Das kann heute schon jede Handykamera", erklärt Sprecherin Katrin Rüter de Escobar. Das reiche dem Versicherer für die Schadensregulierung vollkommen aus.

"Nur drei Prozent aller Unfälle, auch der Personenschäden, enden im Rechtsstreit."

Katrin Rüter de Escobar, Gesamtverband der Versicherungen

Etwas anderes sei es, wenn Personen verletzt wurden, Alkohol im Spiel ist oder der Verdacht besteht, dass der Unfall provoziert wurde. "Dann sollte man immer die Polizei rufen", sagt sie.

Ansonsten könne man im Zweifel immer die Zentralnummer für alle Versicherungen unter (08 00) 2 50 26 00 anrufen. "Da erhalten Autofahrer immer Hilfe", sagt sie.

Rüter de Escobar widerspricht auch Befürchtungen, dass Autofahrer nicht zu ihrem Recht kommen, wenn sie keine Polizei rufen. "Das ist eine reine subjektive Wahrnehmung. Nur drei Prozent aller Unfälle, auch die der Personenschäden, enden überhaupt in einem Rechtsstreit", erklärt die Versicherungssprecherin.

Einer, der es wissen muss, ist Verkehrsrichter am Magdeburger Landgericht Christian Löffler. Er hält eine polizeiliche Unfallaufnahme "nicht zwingend" für eine umfassende Beurteilung eines Unfalls mit Sachschaden erforderlich.

Löffler: "Wichtig sind für uns aussagekräftige Bilder der Endstellung der Fahrzeuge am Unfallort. Die Skizzen, die wir erhalten, auch die von der Polizei, sind ohnehin nicht maßstabsgetreu." Die eigentlichen Schäden, auf die dann auch die Gutachten sich beziehen, werden in den Werkstätten erstellt. Eine Klärung bringe eher das "Unfallrekonstruktionsgutachten" des Sachverständigen.

Ganz anders sieht es Verkehrsrechtsanwalt Ronni Krug. Er empfiehlt, grundsätzlich bei einem Unfall die Polizei zu rufen. "Die Beamten sind unabhängige und vertrauenswürdige Zeugen. Sie können am besten die Situation einschätzen und wissen, was zu tun ist. Jeder Bürger hat das Recht, im Fall eines Schadens diesen auch ordentlich ersetzt zu bekommen", erklärt Krug. Das gelte auch bei sogenannten Bagatellunfällen.

Der Anwalt meint weiter: "Die Frage ist ja auch, was eine Bagatelle ist. Wenn eine Stoßstange eine Delle hat, sind bei den heute eingebauten hochsensiblen Sensoren auch mal schnell ein paar tausend Euro Reparaturkosten fällig." Von außen wäre ein solcher Schaden gar nicht erkennbar. Hinzu komme, dass für manch einen das eigene Auto ein echter Schatz ist und jede Beule eine mittelschwere Katastrophe.

Das Problem, eine Bagatelle einzuordnen, kennen auch die beiden Magdeburger Unfallbeamten Melanie Ziegler und Klaus Wegener. Der Beamte erklärt: "Was viele Autofahrer nicht wissen, ist zum Beispiel auch die Tatsache, dass nach Paragraf 34 der Straßenverkehrsordnung bei Bagatellunfällen die Kreuzung unverzüglich geräumt werden muss." Das tut aber keiner. Normalerweise wäre ein Verwarngeld in Höhe von 30 Euro fällig. Gezückt habe er den Verwarngeldblock wegen dieses Tatbestandes aber noch nie. "Weil es selbst für uns schwierig ist einzuschätzen, was nun ein geringfügiger Schaden ist", sagt er. Das sei wirklich sehr schwer.

Der Fahrer des Jaguar muss übrigens auch noch ein Verwarngeld in Höhe von 30 Euro blechen, weil er "nicht die nötige Sorgfalt" beim Einparken walten lassen hat.

Bei fast jedem Unfall wird nämlich irgendwie immer ein Strafgeld fällig. "Irgendwer hat ja auch immer einen Fehler gemacht, sonst wäre es ja nicht zum Unfall gekommen", meint Polizeiobermeisterin Ziegler.

Die große Ausnahme seien Wildunfälle, die passieren zumeist unverschuldet. Die Aufgabe der Beamten bestehe hier nur im Ausfüllen der Versicherungsbestätigung und dem Markieren des Wildes. Damit der Jagdpächter es später am Straßenrand findet.

Auf dem Domplatz in Magdeburg ist inzwischen alles erledigt. Beide Unfallbeteiligten erhalten einen vorbereiteten Zettel mit den nötigen Daten für die Versicherung. Das war\'s.