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Heute ist Weltdrogentag Spielsüchtiger: "Eltern zu beklauen, ist der Tiefpunkt"

Heute ist Weltdrogentag. "Das betrifft mich nicht", werden viele denken.
Vielleicht doch? In der Magdeburger Drogen-Tagesklinik sitzen kaum
"Junkies". Stattdessen: Mütter, Abteilungsleiter, Schlosser -
"Normalos".

Von Oliver Schlicht 26.06.2014, 03:23

Magdeburg l 8.30 Uhr, Planckstraße. Vor dem Eingang der Tagesklinik steht eine kleine Schlange. So wie jeden Morgen. Die nach ihrem Gründer von den meisten nur Kielstein-Klinik genannte alte Gründerzeitvilla ist Magdeburgs schnelle Ambulanz für Suchtkranke. Soforthilfe - unkompliziert und anonym. Gleich wird geöffnet. Draußen stehen überwiegend Männer, einige Frauen.

Die Tür geht auf. Ein paar Neue melden sich an, andere treffen sich im Therapiezimmer bei der Vorbereitungsgruppe. Enrico geht gleich durch. Er hat einen Termin beim Psychologen.

Der 38-Jährige arbeitet im Handel und hat ein Spielsucht-Problem. Er glaubte eigentlich, die Sache überwunden zu haben. Denn Enricos schlimmste Zeit liegt schon über drei Jahre zurück. "Beim Aktienhandel im Internet habe ich jetzt wieder so einen Druck gehabt, spielen zu wollen. Da waren die ganzen alten Wege im Kopf plötzlich wieder da", erzählt er. Deshalb sei er spontan gleich wieder in die Klinik gekommen. Denn damals wurde ihm hier geholfen. Eine mittlere fünfstellige Summe beim Automatenspiel hat er verzockt. Beziehung kaputt, Depressionen. "Der Tiefpunkt war, als ich meine Eltern beklaut habe." Das will er nicht noch einmal erleben.

Auto weg nach zwei Alkoholfahrten

Robert aus Magdeburg, der bei mehreren Alkoholfahrten seinen Führerschein verloren hat, sitzt beim gleichen Arzt wie Enrico. Auch er erzählt bereitwillig. Beiden Männer haben auch nichts gegen ein Foto. Es scheint, dass dieses öffentliche Bekenntnis zum Suchtproblem ihnen hilft. Nach dem Motto: Ich stehe jetzt dazu! Helft mir, es zu überwinden! Robert ist verheiratet, hat zwei Kinder. Maschinenschlosser.

2011 war er mit 2,58 Promille im Blut unterwegs. Und vor einigen Monaten noch einmal mit 1,2 Promille. So schnell fährt er nicht mehr Auto. Seit fünf Wochen kommt er in die Tagesklinik. "Es ist vorbei. Für mich zählt nur noch völlige Abstinenz", sagt er. Er hat einfach aufgehört. Von einem Tag zum anderen. Entzugserscheinungen? "Nein, überhaupt nicht." Früher zwei, drei Bier am Tag, am Wochenende ein paar mehr. Fühlt er sich wirklich wie ein Alkoholabhängiger? "Ich fühle mich abhängig, weil ich es nicht mehr unter Kontrolle habe. Deshalb habe ich komplett aufgehört", erzählt er. Für seine Frau, für seine Kinder. Für sich.

"Das Bild vom Kiosktrinker, der schon früh um sieben Uhr die erste Büchse öffnet, ist als typisches Alkoholikerbild bei den meisten Menschen präsent. Die Realität sieht häufig sehr viel anders aus", erklärt Klinik-Chef Dr. Volker Kielstein. Entscheidend seien weniger äußere Entzugserscheinungen, sondern das Einsetzen des Kontrollverlustes. Kielstein: "Dieser Moment, wenn der Alkohol anfängt dein Leben zu bestimmen, markiert den Wendepunkt. Wann dieser Punkt einsetzt, ist bei den Menschen unterschiedlich und kann sich im Laufe des Lebens auch ändern."

Kielstein ist ein Urgestein, was die Behandlung von Suchtkrankheiten betrifft. Schon zu DDR-Zeiten baute er in den 1970er Jahren die erste ambulante Tagesklinik der DDR auf. Zwölf solcher Kliniken gab es am Ende, elf wurden 1990 abgewickelt. Die Magdeburger Einrichtung blieb bestehen. Zehn Mitarbeiter, darunter drei Ärzte, hat die Einrichtung heute. 35 Therapieplätze gibt es. Untersuchungen, Entgiftung, Gesprächskreise, Sporttherapie - knapp sechs Wochen dauert das Behandlungsprogramm in der Regel. Die Patienten kommen morgens oder nach ihrem beruflichen Feierabend. Und sie kommen, wenn es ihnen schlecht geht.

Menschen mit Alkoholproblemen sind in der Mehrheit. Zugenommen habe der Mischkonsum von Drogen wie Cannabis, Speed oder Kokain, erzählt Kielstein. Woher bekommen die Patienten ihre Drogen? "Die Menschen kommen in erster Linie in Kontakt mit Drogen, weil es lukrativ ist, Drogen zu verkaufen. Wo genau sie einkaufen, fragen wir nicht." Nach seinen Erfahrungen werde in Magdeburg Kokain, Speed oder zunehmend Crystal in bestimmten Diskotheken und an Straßenecken verkauft, die Drogenabhängige kennen. Vor allem der Handel mit Crystal habe in Sachsen-Anhalt drastisch zugenommen, so der Arzt. "Vor zwei Jahren hatten wir noch zwei, drei Fälle in sechs Monaten. Jetzt haben wir im gleichen Zeitraum 40 Fälle." Crystal führe weniger zu einer körperlichen, mehr zu einer seelischen Abhängigkeit. Menschen, die davon nicht loskommen, laufen Gefahr, langsam sozial zu verelenden.

Auch das Landeskriminalamt kann den Crystal-Trend bestätigen. Nach Cannabis (2786 Vorfälle, 47 Prozent) waren 2013 Amphetamine und Methamphetamine (2513 Vorfälle, 42 Prozent), zu denen Crystal gehört, die zweitgrößte Gruppe bei Drogendelikten. Crystal komme überwiegend aus Tschechien. Nach LKA-Angaben verkaufen dort häufig Vietnamesen im Grenzgebiet auf Märkten die Droge.

Harte Drogen wie Heroin oder Opium kommen in der Magdeburger Tagesklinik dagegen eher selten vor, sagt Kielstein - und auch die Polizei. Die Fallzahlen von Heroin erreichten hierzulande 2013 den niedrigsten Stand seit 15 Jahren. Insgesamt hatte die Polizei im Vorjahr nur mit 143 Heroin-Delikten zu tun. Ein Jahr zuvor waren es noch 180 Delikte.

Es ist 9.30 Uhr. Im Therapieraum sitzen die Teilnehmer der Vorbereitungsgruppe auf Holzklappstühlen. Durch die großen Fenster fallen ein paar Sonnenstrahlen auf den Fußboden. Zehnmal Alkohol, dreimal Droge, dreimal Spielsucht, einmal Essstörung sitzen im Kreis. Ein 60-Jähriger berichtet darüber, dass er ein gutes Wochenende hatte. Kein Trinkdruck. Am Garagentor hat er gebastelt und mit der Motorsense gearbeitet. Dem jungen Mann neben ihm mit der Spielsucht geht es nicht so gut. Er hat Angst vor Sonnabend. Da zieht die Partnerin aus der gemeinsamen Wohnung. Nach sieben Jahren ist er dann zum ersten Mal allein. "Du musst dich ablenken. Was Schönes machen", sagen die anderen. Er nickt. Und zweifelt.