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Psychische Erkrankung Streit um ambulante Therapie bei Depressionen

Schwere Depression ohne Krankenhaus therapieren - das ist möglich, sagt die Magdeburger Psychologin Dr. Carmen Beilfuß. Sie hat zusammen mit der Barmer GEK ein Pilotprojekt für eine ambulante Alternative gestartet. Der Psychotherapie-Chef am Universitätsklinikum Magdeburg ist skeptisch.

Von Elisa Sowieja 10.10.2014, 03:04

Magdeburg l Juliane Schröder* war eigentlich nur wegen einer Erkältung beim Arzt. Auf die Idee, dass ihr Körper auf die Belastung durch eine Trennung und die Krankheit ihrer Eltern reagieren könnte, wäre sie im Behandlungszimmer nie gekommen. Doch auf dem Heimweg im Auto überkam sie plötzlich ein schauderhafter Gedanke: Wenn sie jetzt den Lenker herumreißt, würde sie doch kaum jemand vermissen. "In den nächsten Monaten habe ich viel geweint, hatte keinen Elan. Ich lief neben mir", erzählt die Mittvierzigerin. Heute, ein halbes Jahr nach der Diagnose Depression, vermittelt zumindest der erste Eindruck ein anderes Bild von ihr. Etwas schüchtern wirkt sie, aber sonst: quicklebendig.

Normalerweise hätte Juliane Schröder eine Psychotherapie im Krankenhaus benötigt. Stattdessen hat sie in den vergangenen vier Wochen ein Intensivprogramm in der Ambulanz von Dr. Carmen Beilfuß durchlaufen. Seit dem Start des Pilotprojekts im April wurden dort bisher drei Gruppen à zehn Patienten nach dem Modell namens Systemische Therapie behandelt.

Dabei kommen die Teilnehmer werktags für vier Stunden in die Praxis. Beilfuß zufolge könnten in dieser Zeit auch schwer Depressive symptomfrei und arbeitsfähig werden. Somit sei der Ansatz nicht nur eine Alternative zu anderen ambulanten, sondern auch zu stationären Therapien.

"Auch hier gibt es eine feste Tagesstruktur", erklärt sie. Die besteht unter anderem aus Gruppengesprächen, Entspannungsübungen, Sport, Malerei und Ausflügen mit Therapiehunden. Die Patienten erhalten individuelle Wochenaufgaben - wie etwa offener mit anderen zu sprechen. Hinzu kommt ein Einzelgespräch pro Woche.

Das Programm weist Ähnlichkeiten zur Verhaltenstherapie auf, die in Krankenhäusern meist angewandt wird. Bei der Systemischen Therapie stehen jedoch soziale Beziehungen mehr im Fokus. Und hierfür seien in der Ambulanz einige Rahmenbedingungen besser als in einer großen Klinik. "Bei uns bleibt die Gruppenzusammensetzung von Anfang bis Ende gleich, das schafft eine Vertrauensbasis", sagt Beilfuß. Zudem werden die Angehörigen stark einbezogen - erhalten etwa Tipps zur Unterstützung des Kranken. Beilfuß sieht einen weiteren Vorteil gegenüber den Kliniken: "Die Angebote sind stark aufeinander abgestimmt, unsere Experten tauschen sich ständig aus."

"Einen Anspruch nach dem Motto `Kommen Sie zu uns, dann müssen Sie nicht ins Krankenhaus` halte ich für werbemäßig akzentuiert."

Professor Bernhard Bogerts

In den Augen von Professor Bernhard Bogerts, Leiter der Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Magdeburg, fehlt in der Runde allerdings ein entscheidender Experte: der Psychiater. "Bei einem schweren Grad an Depression ist immer eine Kombination von Psychotherapie und Psychopharmaka nötig", sagt er. "Im Krankenhaus stimmen sich Therapeut und Psychiater regelmäßig über die medikamentöse Behandlung ab."

Zudem könne auch etwas schieflaufen: "Zusammenhänge mit anderen Krankheiten könnten unerkannt bleiben. Außerdem besteht die Gefahr, dass sich die Depression verschlimmert, wenn etwa jemand zu Hause vereinsamt." Im schlimmsten Fall könne es zum Suizid kommen.

Für den Großteil der Depressions-Patienten ist Bogerts zufolge zwar ohnehin eine ambulante Behandlung ausreichend. Doch bei den restlichen könne die Systemische Therapie eine stationäre nicht ersetzen. "Einen Anspruch nach dem Motto `Kommen Sie zu uns, dann müssen Sie nicht ins Krankenhaus` halte ich für werbemäßig akzentuiert."

Das Modell sei gar nicht für alle gedacht, hält Beilfuß dagegen. "Für einige ist eine stationäre Therapie besser. Ich biete nur ergänzend eine andere Möglichkeit an - auch vor dem Hintergrund der Wartezeit auf einen Therapieplatz." Für eine herkömmliche ambulante Therapie liegt diese in Sachsen-Anhalt im Schnitt bei 17 Wochen. Für den stationären Bereich gibt es keine landesweite Erhebung. Bei Patienten der Barmer GEK etwa liegt sie - Akutfälle ausgenommen - bei rund vier Wochen.

In den Wartezeiten liegt einer der Gründe, weshalb sich die Kasse für das von der Universität Heidelberg begleitete Pilotprojekt entschieden hat. "Das Konzept bietet einen nahezu nahtlosen Übergang zur ambulanten Nachbehandlung", sagt Landesgeschäftsführer Axel Wiedemann. Zudem: "Wenn es eine Möglichkeit gibt, einen stationären Aufenthalt zu verhindern, ist es zumindest einen Versuch wert." Ganz abgesehen von der Kostenersparnis, die eine ambulante Alternative mit sich brächte.

Die AOK Sachsen-Anhalt hat sich gegen das Pilotprojekt entschieden. Zum einen konzentriere es sich nur auf Magdeburg, zum anderen sei bisher die Wirksamkeit nicht nachgewiesen, argumentiert ein Sprecher. Die Kasse wartet nun ab, was der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) sagt, die Systemische Therapie im Allgemeinen derzeit prüfen lässt. Der GBA hat im Anschluss drei Möglichkeiten: Er kann den gesetzlichen Krankenkassen bundesweit verbieten, das Modell in den Leistungskatalog aufzunehmen, sie dazu verpflichten oder es ihnen freistellen. In letzerem Falle hält es die AOK für "möglich, noch mal in Verhandlungen zu treten, sollte die Evaluation der Universität Heidelberg einen Zusatznutzen bestätigen", sagt ein Sprecher. Bis es zu einer Entscheidung kommt, dauert es allerdings: Die GBA-Prüfung soll erst in drei Jahren abgeschlossen sein.

Sachsen-Anhalts Sozialminister Norbert Bischoff (SPD) zeigt sich indes grundsätzlich erst einmal offen für das Projekt: "Ich setze auf die ambulante und stationäre Fachversorgung, anerkenne und unterstütze dennoch jedes ergänzende Angebot."

"Ich habe in dieser kurzen Zeit Lebensfreude wiedergefunden. Die Therapie am Vormittag hat zu Hause immer noch nachgearbeitet." Juliane Schröder*

Der Verband Psychologischer Psychotherapeuten sieht das Modell als "durchaus sinnvolle Alternative" zu einer stationären Behandlung, da die Bestandteile zumindest auf den ersten Blick vergleichbar seien. Jedoch entscheide stets der Einzelfall, was für einen Patienten besser sei, sagt ein Sprecher.

Juliane Schröder ist mit ihrer Entscheidung für die Ambulanz zufrieden. "Ich habe in dieser kurzen Zeit Lebensfreude wiedergefunden." Dass sie ab nachmittags auf sich allein gestellt war, habe sie nicht gestört: "Die Therapie am Vormittag hat zu Hause immer noch nachgearbeitet. Und ich hatte eine Motivation, am nächsten Tag aufzustehen." In ein paar Wochen möchte sie wieder arbeiten gehen.

Ob dieser Erfolg ein Einzelfall ist, wird sich nächsten April zeigen, dann geht das Pilotprojekt zu Ende. Wenn das Modell überzeugt, könnte ein weiteres Projekt mit der Barmer GEK folgen. Langfristig würde Beilfuß gern weitere Ambulanzen im Land aufbauen. Ihren Angaben zufolge sehen die Zwischenergebnisse gut aus: Zwei Drittel der bisherigen Teilnehmer seien wieder arbeitsfähig.

*Name von der Redaktion geändert