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Schiedsrichter: "Der Rücken ist dann bespuckt"

17.12.2012, 17:37

Der gewaltsame Tod eines Linienrichters in den Niederlanden wirft die Frage auf: Wäre so etwas auch hierzulande vorstellbar? Schiedsrichter sprechen von einer immer geringer werdenden Hemmschwelle der Fans.

Magdeburg l 12000 Niederländer zogen vor zehn Tagen in einem Schweigemarsch mit Fackeln in der Hand durch die Stadt Almere. Sie ehrten damit den Linienrichter Richard Nieuwenhuizen. Der 41-Jährige war wenige Tage zuvor bei einer Prügelattacke nach einem Spiel ums Leben gekommen. Ein Ereignis, das im fußballbegeisterten Nachbarland die Menschen zutiefst schockiert hat. Der Fußballverband KNVB hatte nach dem tragischen Ereignis 33000 Amateurspiele im Land absagen lassen. Stattdessen wurden in den Vereinen landesweit Gespräche über Gewalt im Fußball und Gedenkveranstaltungen organisiert.

Auch in Deutschland wird über die Frage diskutiert: Wie sicher sind die Schiedsrichter? Schmährufe gegen den Mann mit der Pfeife und seine Kollegen an den Linien gelten bislang als Kavaliersdelikt. Doch nicht nur das passiert. "Der Höhepunkt war, als mir ein Spieler im August dieses Jahres ins Gesicht gefasst hat", erzählt Helmut Lampe, mit 61 Jahren ein echtes Urgestein an der Pfeife aus dem Salzlandkreis. Genau 1845 Pflichtspiele hat er schon gepfiffen, darunter zwischen 1975 und 1981 Spiele der 2. DDR-Liga.

Mit Begleithunden von derPolizei vom Platz geführt

An ein entscheidendes Spiel der Bezirksmeisterschaft im Bezirk Halle im April 1977 erinnert er sich noch heute mit Schrecken. "Da musste das Schiedsrichter-Kollektiv von der Polizei mit Begleithunden vom Spielfeld geholt werden." Heute fehle vielen Menschen das Unrechtsbewusstsein. Lampe: "Viele Leute - Spieler, Offizielle, Zuschauer - nutzen den Sportplatz, um ihre angestaute Aggression der Arbeitswoche abzubauen. Der Schiedsrichter ist das schwächste Glied in der Kette."

Der 24-jährige Tobias Menzel von Fortuna Magdeburg steht noch am Anfang seiner "Schiri"-Laufbahn. "Beleidigungen wie Arschloch oder Wichser höre ich an fast jedem Wochenende", sagt er. Wirklich tätliche Angriffe gegen ihn habe es aber noch nie gegeben. Müssten solche Beleidigungen härter bestraft werden? "Die Strafen reichen aus. Die Strafen, die das Sportgericht vorhält, sind angemessen."

"Körperliche Angriffe gegen Schiedsrichter sind mir aus Sachsen-Anhalt nicht bekannt", sagt Markus Scheibel. Und er muss es wissen. Scheibel - von 1986 bis 2008 Schiedsrichter und international erfahrener FIFA-Assistent - leitet die Schiedsrichterkommission Sachsen-Anhalt als Vorsitzender. Das Gremium aus zwölf Schiedsrichtern kommt sechsmal im Jahr zur Auswertung des Spielbetriebes zusammen. "Spielabbrüche gab es in den vergangenen Jahren so gut wie keine." Zerkratzte Autos? Zerstochene Reifen? Scheibel überlegt lange. "Da gab es vor zwei Jahren ein zerkratztes Auto nach einem Verbandsligaspiel in Bernburg. Aber es war nicht wirklich klar, ob das mit dem Spiel in Zusammenhang stand." Für Scheibel sind verbale Entgleisungen nicht zwangsläufig eine Beleidigung der Person des Schiedsrichters. "Gehört so ein derber Spruch von einem Zuschauer, dessen geistiges Feld nicht weit bestellt ist, nicht irgendwo zum Fußball dazu? Das ist doch ein Stück weit gelebte Emotion." Das trage im Allgemeinen eher zur Unterhaltung auf den Rängen bei.

Er selbst habe es standhaft ertragen, wenn "beim Verlassen des Spielfeldes der Inhalt eines Bierbechers geflogen kam". International war Markus Scheibel vor allem als Linienrichter im Einsatz. In Tuchfühlung zum Publikum. "Der Rücken ist dann schon mal bespuckt. Na und? Dann wird das Trikot halt gewaschen und fertig."

Es gebe selbst in den niedrigen Spielklassen eine unsichtbare Mauer am Spielfeldrand, die von der überwiegenden Zahl der Zuschauer als Grenze akzeptiert werde. "Bis hierhin und nicht weiter. Daran halten sich die Leute." Ein tätlicher Angriff wie in den Niederlanden sei auch in Sachsen-Anhalt zwar grundsätzlich nicht auszuschließen. "Aber vorstellbar ist das kaum." Scheibel hält große Stücke auf die Arbeit der Vereine. "Die Vereine sind verpflichtet, Ordner zu stellen. Und das machen sie auch. Der Schiedsrichter findet beim Verein der Heimmannschaft immer Unterstützung. Das ist ein eisernes Prinzip", so Sachsen-Anhalts oberster Schiedsrichter.

"Gelebte Emotion" oderdoch Beleidigungen?

Bleibt die Frage, ob auch die jungen Nachwuchs-Schiedsrichter mit dem leben können, was Scheibel als "gelebte Emotion" beschreibt? Sie können. Jan Sprengkamp vom TuS Neustadt Magdeburg, seit drei Jahren Schiedsrichter und selbst Fußballspieler, versucht, Kritik gelassen zu nehmen. Man wachse daran. Schlimm seien die Zustände jedoch bei den unteren Altersklassen, wo die Eltern gegen den Schiedsrichter pöbelten, was das Zeug halte. "Die Eltern kann ich nicht vom Feld schicken. Aus ihrer Sicht behindere ich die Leistungsschau der Kinder nur", berichtet der 16-Jährige. Mit Einsetzen der Pubertät kämen die Angriffe dann vom Platz selbst, wie Jan Sprengkamp selbst bei seinem ersten Stadtliga-Herren-Spiel erleben musste. "Die Männer waren alle zehn Jahre älter als ich und haben alles besser gesehen. Da fängt man wirklich an, an seinen Entscheidungen zu zweifeln und findet keine Linie."

Der Nachwuchs müsse ein dickes Fell bekommen und lernen, wie man damit umgeht, sagt Felix-Benjamin Schwermer, der Schiedsrichter-Obmann beim TuS Neustadt ist und selbst Spiele der Regionalliga pfeift. "Kritik meint nicht die Person, sondern die Entscheidung des Schiedsrichters", ist die Erfahrung des 25-Jährigen. Auch er wurde schon bei einem Landesliga-Spiel mit Bier übergossen. "Wer Eintritt zahlt, hat das Recht, was zu sagen", findet Schwermer.

"Nicht alles hören", ist auch die Devise bei Schiedsrichter Christian Naujoks. Für Naujoks ist auf dem Platz ein Wandel in der Gesellschaft ablesbar. Gerade Jugendliche würden verstärkt gegen Autoritäten aufbegehren. "Wer zu Hause keinen Respekt vermittelt bekommt, zeigt auf der Straße und beim Sport auch keinen", so der 24-Jährige.

Henry Glaue, Verantwortlicher für Schulfußball beim Landesfachverband Fußball, glaubt an eine "riesengroße Dunkelziffer", was Übergriffe gegen Schiedsrichter angeht. Um verlässliche Zahlen für Sachsen-Anhalt zu bekommen, wolle sein Verband nun Sportgerichtsurteile auswerten. Die Nachwuchsschiedsrichter im Land sollen außerdem künftig deeskalierend geschult werden. Und noch ein "Heilmittel" mit nachhaltigem Lerneffekt hätte Glaue parat: "Eigentlich müsste jeder Spieler auch mal selbst ein Spiel pfeifen."

Felix-Benjamin Schwermer und Christian Naujoks wollen auf jeden Fall weitermachen, "aus Liebe zum Fußball". So sehr man sich auch manchmal ärgere, sei es doch ein tolles Hobby - und eine große Kunst, ein Spiel gut über die Bühne zu bringen, so Schwermer.

Und da wird ihm sicherlich jeder Fußballfan zustimmen. Denn ohne die rund 79000 Schiris, die bundesweit an jedem Wochenende zum Teil in Mehrfacheinsätzen 110000 Spiele pfeifen, gäbe es keinen Fußball.