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Land will Kinder mit Sprachbehinderung an Grundschulen holen, doch Experten sind besorgt "Schulen nicht ausreichend vorbereitet"

Von Elisa Sowieja 27.12.2012, 02:26

Sachsen-Anhalt will deutlich mehr Schüler mit Sprach- oder Lernbehinderung in Regelschulen lernen lassen. Doch Pädagogen mahnen, dass Grundschulen nicht genügend vorbereitet sind. Sie fürchten, dass diese Kinder ausgegrenzt werden.

Magdeburg l Mit der Unterschrift unter die UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, ein Bildungssystem zu schaffen, in dem Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen können. Folglich ist im Koalititionsvertrag der Landesregierung das Ziel festgehalten, "deutlich mehr Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf als bisher den Zugang zu einem allgemeinbildenden Abschluss zu eröffnen."

"80 Prozent der Lehrer fühlten sich zum Start nicht ausreichend qualifiziert ."

Susanne Wagner

Derzeit lernen in den Schulen des Landes 24 Prozent der 15400 Schüler mit Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht. Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) zufolge soll der Anteil in den nächsten Jahren "weiter behutsam steigen": "Auch wenn wir in Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren einiges erreicht haben, sind andere Länder inzwischen weiter." So liegt Bremen bei rund 60 Prozent. Wie man den Anteil steigern will, dazu soll bald ein Landeskonzept vorliegen.

Mitglieder von Regierung und Gewerkschaften haben als gemeinsame Vorarbeit Empfehlungen erstellt. Sie sehen vor, die Grundversorgung mit Förderunterricht an Grundschulen pauschal für die gesamte Schülerschaft auszubauen - also ohne dass diagnostiziert wird, welche Kinder tatsächlich Sprach- oder Lernbeeinträchtigungen haben. So soll erreicht werden, dass mehr Eltern ihre Kinder statt an Förder- an Grundschulen schicken. Wird dies umgesetzt, heißt es, gäbe es für Kinder mit Sprachbehinderung in wenigen Jahren keine eigene Förderschulform mehr. Kinder mit Lernbehinderung würden wenn überhaupt erst ab Klasse 5 Förderschulen besuchen.

Sprachpädagogen und Lehrern bereiten die Pläne Sorge. "Zwar wollen wir, dass behinderte mit nicht behinderten Kindern lernen. Doch besonders Grundschulen sind noch nicht ausreichend vorbereitet", sagt Antje Thielebein, Vorsitzende der Landesgruppe der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik. Sie sorgt sich vor allem um Kinder mit Sprachproblemen.

So sieht das auch Susanne Wagner vom Bereich Sprachbehindertenpädagogik der Martin-Luther-Universität Halle, wo Förderschullehrer mit dem Schwerpunkt Sprache ausgebildet werden. Sie verweist auf einen Modellversuch des Landes, bei dem der gemeinsame Unterricht in Grundschulklassen unter die Lupe genommen wurde: "80 Prozent der Lehrer fühlten sich zum Start nicht ausreichend qualifiziert", sagt sie. "Und dass die Erfolge den zeitlich intensiven Vorbereitungsaufwand nicht rechtfertigen, fanden zu Beginn des Versuchs zwar nur 7, zum Ende aber 38 Prozent."

Ihren Eindruck bestätigt Hardy Peter Güssau, bildungspolitischer Sprecher der CDU. "Ich persönlich bin nicht davon überzeugt, dass die Lehrer fit sind", sagt der ehemalige Gymnasiallehrer.

Die Sprach-Experten fordern schnellstmöglich flächendeckende Weiterbildungsangebote. Dorgerloh verweist darauf, dass es seit Jahren Weiterbildungen gebe. Allerdings werden diese auf freiwilliger Basis angeboten. Seine Begründung: "Bildung gelingt am besten durch Einsicht, weniger durch Zwang. Aber es gibt auch grundsätzlich eine professionelle Pflicht zur Weiterbildung." Zum Thema Inklusion würden die Angebote ausgebaut. "Im Lehrerstudium sind sie schon jetzt Pflicht."

"Kinder, die kaum zu verstehen sind, können auf Wunsch in einer Förderschule lernen."

Stephan Dorgerloh

Güssau ist der Meinung, das Land sei "mit der Vorbereitung der Kollegen zu spät dran." Allerdings hätten auch einige Lehrer Angebote nicht wahrgenommen. Thielebein und Wagner sprechen sich zudem für mehr Personal aus. "Die Anforderungen steigen", sagt Wagner. Die Regierung plant gegenwärtig jedoch auf der Grundlage des Personalentwicklungskonzepts keine zusätzlichen Einstellungen von Lehrern und pädagogischen Mitarbeitern, sondern will zunächst frei werdendes Personal aus Förder- an die Regelschulen holen. Dorgerloh: "Natürlich brauchen wir für Inklusion Fachpersonal. Aber der Markt für Förderschullehrer und Fachkräfte ist auch begrenzt."

Wagner befürchtet: "Unter den jetzigen Bedingungen werden sprachgestörte Kinder in Regelschulen von Mitschülern wohl eher ausgegrenzt als akzeptiert. Es dauert noch einige Jahre, bis die Schulen bereit sind." Der Minister aber sagt, man könne die Weiterentwicklung des gemeinsamen Unterrichts nicht aufschieben. "Wir sind mit Augenmaß, Schritt für Schritt unterwegs."

Bildungspolitiker Güssau ist der Meinung, man müsse "erst die Kollegen vorbereiten, bevor man eine große Inklusions-Welle startet. Qualität geht vor Schnelligkeit."

Zusammen mit Verbänden der Grund-, Sekundar- und Sonderschulpädagogiklehrer haben die Experten um Thielebein und Wagner ihre Forderungen zur Inklusion in Thesen gefasst, die sie dem Kultusministerium übergeben haben.

Zumindest an einem Punkt können sie aufatmen: Dem Minister zufolge sollen betroffene Schüler auch künftig nur dann Regelschulen besuchen, wenn die Eltern zustimmen. "Kinder, die zum Beispiel wegen massiver Sprachprobleme kaum zu verstehen sind, können auf Wunsch in einer Förderschule lernen."