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Tübinger Wissenschaftler im Interview Gehen Japaner wirklich gelassen in die "Apokalypse"?

16.03.2011, 04:27

Trotz immer neuer Horror-Nachrichten und schrecklicher Bilder wirken viele Japaner auf Fernsehbildern geradezu gefasst. Ist ihre Geisteshaltung wirklich so anders? Und wo liegt der Unterschied im Umgang mit der Atomkraft? Der renommierte Japanologe Klaus Antoni aus Tübingen gibt Antworten.

Frage: Herr Prof. Dr. Antoni, wenn man sich vorstellt, wie die Deutschen bei ähnlichen Ereignissen wie jetzt in Japan reagieren würden, packt einen die Angst. Japaner wirken dagegen fast cool. Nur ein Vorurteil?

KlausAntoni: Bei der Frage nach Mentalitätsunterschieden zwischen Japan und Deutschland lauern Klischees, die schnell differenzierte Hintergründe verschleiern können. Tatsache ist, dass die japanische Gesellschaft seit Jahrhunderten Erfahrung mit der Gefahr von Naturkatastrophen sammeln konnte und musste. Daraus hat sich eine eher pragmatische Gelassenheit entwickelt, die andernorts erstaunt.

Frage: Sind Japaner denn nur äußerlich gelassen?

Antoni: Auch wenn bereits in Schulen eingeübt wird, bei Erdbeben Ruhe zu bewahren und Rücksicht zu nehmen, bedeutet das keineswegs, dass Japaner grundsätzlich Gefahren gleichgültig gegenüberstehen. Man ist nur darauf konditioniert, sich auch in der Not diszipliniert und auf gar keinen Fall egoistisch zu verhalten. Es gibt ausgeprägte Normen, die das Wohl des Einzelnen hinter das der Gruppe stellen, nach wie vor.

Starke Trennung von Atomwaffen und Atomkraft

Frage: Ausgerechnet dort, wo 1945 die Atombomben fielen, wird auf Nuklearenergie gesetzt. Vielen Deutschen kommt das absurd vor. Gibt es denn gar keine Anti-Atom-Bewegung in Japan?

Antoni: Die Anti-Atom-Bewegung dürfte in Japan eine der stärksten gesellschaftlichen Kräfte überhaupt sein. Doch wegen der Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki bezieht sie sich bisher nahezu ausschließlich auf die Gefahren durch Atomwaffen. Die friedliche Nutzung der Kernenergie wurde davon weitgehend ausgenommen. Dies mag teils auch der Regierungspropaganda geschuldet sein, die stets auf eine Trennung der beiden Bereiche gezielt hat. Dennoch steht das kollektive Trauma der Atombombenabwürfe außer Frage."

Frage: Eine solche Trennung von Atomwaffen und Atomkraft wirkt auf viele Menschen in Deutschland fremd. Haben die Deutschen eine Sonderrolle?

Antoni: In Deutschland scheint mir die Anti-AKW-Bewegung stark von einer ethischen, insbesondere protestantisch geprägten Grundhaltung geprägt zu sein, die das Gewissen des Einzelnen als Instanz ins Zentrum stellt, und ihn zu einer Art "Zeugnis" auffordert. Das ist in Japan sicherlich anders, da die gesellschaftliche Harmonie oder, wie gesagt, die Disziplin einen unvergleichlich höheren Stellenwert einnimmt.

Frage: Glauben Sie, dass die Japaner jetzt mit ihrer traditionellen Einstellung zum Thema Atom brechen?

Antoni: Man sollte nie vergessen, dass das heutige Japan eine komplexe, vielfältige Gesellschaft ist, die unterschiedlichste Strömungen kennt. Die Öffentlichkeit reagiert ausgesprochen kritisch auf politisches Fehlverhalten, Skandale und Vertuschungen, und ich bin sicher, dass diese Katastrophe auch zu einer breiten Diskussion führen wird. Jetzt allerdings steht noch ganz und gar die Sorge um die Opfer und die konkreten Auswirkungen dieser beispiellosen Ereignisse im Vordergrund. (dpa)