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Alzheimer Luisas Kampf gegen das Vergessen

Die kleine Luisa aus Magdeburg leidet an einer unheilbaren Krankheit. Ihr Lachen hat sie dennoch nicht verloren.

Von Juliane Just 09.08.2017, 01:01

Magdeburg l Sie ist ein kleiner Morgen-Mensch. Luisa sitzt auf der Couch, die Füße baumeln vor und zurück. Sie plappert aufgeregt vom anstehenden Ausflug, klatscht in die Hände und lächelt. Ein aufgewecktes Mädchen. Beim genaueren Hinsehen fällt auf: Quer über ihren kleinen Bauch zieht sich eine große Narbe. Nur acht Wochen war Luisa auf der Welt, da musste sie bereits operiert werden. Denn das Mädchen ist unheilbar krank.

„Dass etwas nicht stimmt, ist uns schon an Luisas erstem Lebenstag aufgefallen“, erinnert sich Luisas Mutter Jana Hirschfeld. An diesem 21. Juni 2009 freuen sich die Eltern über die Geburt ihres ersten Kindes. Gleichzeitig machen sie sich große Sorgen. In den Tagen danach wird Luisas kleiner Körper immer gelber, immer dünner, immer schwächer. Die Ärzte können sich nicht erklären, was dem Kind fehlt.

Es folgt jene Operation, die die große Narbe auf Luisas Bauch hinterlassen hat. Sie litt an Gelbsucht, Leber und Milz waren geschädigt. Außerdem sollten Punktionen an der Leber gemacht werden, eine Organ-Transplantation könnte auf das Kind zukommen. Eine emotionale Zeit für ihre Eltern, die nur hoffen konnten. Vorm Operationssaal stehen schwere Stunden an. Ein letzter Kuss auf die gelb gefärbte Hand, die Zeit des Bangens begann.

Vier Jahre Ungewissheit. Vier Jahre zwischen Messen, Wiegen, Blutentnahme und Überwachung. Zwischen Ärzten, Schwestern und Therapeuten. Zwischen Hannover, Mainz und Magdeburg. Die kleine Familie bleibt tapfer, allen voran Luisa.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erfahren die Eltern endlich, woran ihr Kind erkrankt ist. Jana Hirschfeld erinnert sich: „Der Arzt sagte, wir sollen anfangen, unser Leben zu genießen.“ Denn diese Erkrankung sei schwerwiegend und der Verlauf unvorhersehbar.

Luisa hat Niemann Pick Typ C. Dabei handelt es sich um eine Stoffwechsel-Erkrankung, die mit einem Gendefekt einhergeht. Überschüssiges Cholesterin kann in den Zellen nicht abtransportiert werden. Damit können die Zellen den körpereigenen Müll irgendwann nicht mehr verarbeiten und sterben ab. Die Krankheit schädigt Organe, aber auch das Nervensystem. „Die Erkrankung ist fies, es gibt keine vorhersehbare Entwicklung“, sagt Jana Hirschfeld. „Klar ist nur, dass unser Kind irgendwann sterben wird.“ Luisa ist ein fröhliches Mädchen. Ihre Sprache entwickelt sich langsam, aber sie redet trotzdem munter drauf los. Nachmittags tobt sie bei strahlendem Sonnenschein im Garten umher. Fußball spielen, Trampolin springen, schwimmen – Bewegung tut Luisa gut. Auch wenn sie ihre Schritte teilweise unsicher setzt und auch mal stolpert, lässt sie sich nicht vom Lachen abhalten.

Die Tücke ihrer Erkrankung: Die körperlichen und geistigen Fähigkeiten gehen nach und nach verloren. Da die Kinder teilweise Symptome aufzeigen wie alternde Menschen, wird die Krankheit auch „kindliches Alzheimer“ genannt. Luisa lernt langsamer als andere Kinder, verlernt die Dinge schneller. „Im Alter von fünf Jahren konnte Luisa Fahrrad fahren. Das hat sie unheimlich gern gemacht“, berichtet ihr Vater Dirk Hirschfeld. Ein Jahr später hatte Luisa es verlernt. Auch hocken kann sie nicht mehr. „Das macht uns traurig, wir sehen aber dafür Fortschritte in anderen Bereichen“, sagt ihr Vater. Seit einem Jahr geht die Achtjährige auf eine Förderschule in Magdeburg, ist dadurch offener geworden, die Sprache hat sich verbessert.

Doch oft stehen auch Termine an, die unangenehm sind. Luisa muss ständig zu Ärzten, die Untersuchungen über sich ergehen lassen. Zusätzlich nimmt sie an Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie teil. Für die Eltern bedeutet das vor allem eins: Organisation. Dirk und Jana Hirschfeld arbeiten in den Frühschichten, teilen sich die Schichten am Nachmittag auf.

In dem vollgepackten Wochenplan hat Luisa einen Höhepunkt. Sie ist ganz zappelig, wenn es nach Möser (Landkreis Jerichower Land) geht. Dort nimmt sie an einer Reittherapie teil. Mit den Pferden können Luisas Bewegungsabläufe geschult werden. So muss sie auf dem breiten Rücken der Pferde die Balance halten oder übt die Feinmotorik beim Flechten der Mähne. Während der Therapiestunde konzentriert sich Luisa. Immer wieder tätschelt die kleine Hand über den muskulösen Hals des Pferdes, während sie sicher im Sattel sitzt.

Das sind gute Tage für die Achtjährige. Doch es gibt auch schlechte, wenn Luisa kleine Dinge nicht gelingen wollen, wenn die Arztbesuche an den Kräften zehren oder sie unmotiviert ist. „Jeder Tag mit Luisa ist anders und hängt von ihrer Form ab“, berichtet Jana Hirschfeld.

Luisas Eltern wollen nicht aufgeben. Sie engagieren sich in der Niemann-Pick-Selbsthilfegruppe, haben ein Buch über die ersten Lebensjahre ihres Kindes geschrieben, betreiben einen Blog. „Wir wollen auf diese seltene Krankheit aufmerksam machen“, sagt Jana Hirschfeld. Denn je seltener eine Erkrankung ist, desto seltener wird auch dazu geforscht. Doch gerade darin sehen Luisas Eltern einen Weg, irgendwann vielleicht ein Heilmittel zu finden.

Wichtig ist es den Eltern auch, dass Kinder wie Luisa in die Gesellschaft eingebunden werden, wie Jana Hirschfeld berichtet: „Viele Menschen haben Barrieren in ihren Köpfen.“ So sei es für sie kräftezehrend gewesen, immer wieder zu erklären, warum Luisa noch nicht so gut spricht, warum sie anders läuft oder sich anders verhält. Wie eine Rabenmutter hätte sie sich manchmal gefühlt. „Dafür gibt es auch kleine Momente der Inklusion, die mich freuen“, sagt die gelernte Heilpädagogin. Wenn Eltern ihren Kindern erklären, dass Luisa anders ist, ohne das Wort „behindert“ in den Mund zu nehmen. Wenn eine junge Frau die Tür zu den barrierefreien Toiletten für Luisa aufhält. Wenn Menschen ihre Tochter so akzeptieren, wie sie ist.

Für Luisa hatte der Tag heute vor allem viele schöne Elemente. Zum Abendbrot wird gegrillt. Es riecht lecker nach Gebratenem, aber Luisa hat keinen Appetit, sondern nur Augen für den Pool. Ihr Vater hilft ihr, in den Badeanzug zu schlüpfen und schon planscht sie vergnügt. Auf dem blau schimmernden Grund des Pools liegen Ringe, die Luisa einen nach dem anderen herausfischt. Als sie alle vier hat, springt sie freudig aus dem Wasser. Ihre Eltern bekommen einen Lachanfall und Luisa lacht herzlich mit. Wie in einer ganz normalen Familie.

Verschlechterte Motorik, epileptische Anfälle, der Verlust der Sprache – all das kann irgendwann auf Luisa zukommen. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht in 20 Jahren. „Ich wünsche mir, dass ich immer spüre, dass unser Kind glücklich ist, auch wenn sie das irgendwann nicht mehr in Worte fassen kann“, sagt Jana Hirschfeld und schaut zu ihrem Mann. Er sagt: „Ich wünsche mir, dass sie immer Spaß am Leben hat und so mobil bleibt wie bisher.“ Für Luisa ist die Zukunft der nächste Tag. Weiter wollen auch ihre Eltern noch nicht schauen. Weil jeder Tag mit ihrem Kind zählt.