1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Asylverfahren am Fliesband

Verwaltungsgericht Asylverfahren am Fliesband

Auf Einzelrichtern in Sachsen-Anhalt lastet durch die erhöhte Anzahl von Asylklagen ein hoher Druck, wie ein Besuch in Magdeburg zeigt.

08.02.2018, 23:01

Magdeburg l „Salām.“ Der junge Mann ist spät dran. Er nickt der Richterin zu, als er kurz nach halb zehn den Sitzungssaal 11 betritt und grüßt sie knapp mit dem arabischen Wort. Dann setzt sich Parviz rasch auf den Platz neben seinem Anwalt. Es kann losgehen. Monatelang hat der Afghane auf diesen Tag gewartet. Heute wird seine Klage verhandelt – gegen die Bundesrepublik Deutschland. Wie die meisten seiner Landsleute geht Parviz gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) vor.

Die Personalien werden abgefragt, dann erzählt der junge Afghane seine Geschichte. 2015 ist er nach Deutschland gekommen. Parviz stammt aus der Provinz Balch. Sein Vater hat für ein ausländisches Unternehmen gearbeitet, welches Brennstoff transportiert. Bei einem Angriff auf einen Konvoi kam sein Bruder ums Leben, den der Vater an diesem Tag mitgenommen hatte. Schon zuvor habe es Drohanrufe der Taliban gegen den Vater gegeben, berichtet Parviz. Die ganze Familie ist geflohen.

Detailliert fragt Richterin Miriam Furthmann nach. Sie muss in jedem Fall die individuellen Fluchtgründe der Kläger prüfen. „Wurden Sie auch selbst bedroht?“ Parviz, der aktuell in Stendal lebt, verneint. „Nur mein Vater“, sagt er.

Das ist der Knackpunkt, erläutert die Richterin dem Flüchtling und seinem Anwalt. Der Vorfall ist tragisch, aber der junge, volljährige Mann habe „keine eigenen Fluchtgründe vorgetragen“. Da er Verwandte in einer anderen Provinz Afghanistans hat, besteht die Möglichkeit, dass er dort einen Neuanfang startet und Arbeit findet. Eine Anerkennung als Flüchtling kommt nicht in Frage. Zu berücksichtigen sei aber, dass sein Vater weiter in Deutschland leben werde, erklärt die Richterin. Denn dieser ist persönlich bedroht worden. Möglicherweise kommt ein Abschiebestopp für Parviz in Betracht, da unsicher ist, ob ihm seine Verwandten in Afghanistan auch tatsächlich helfen würden. „Ich werde innerhalb von 14 Tagen eine Entscheidung treffen und Ihnen diese mitteilen“, sagt die Richterin. Nach gut 40 Minuten schließt sie die Verhandlung. Fall eins ist für heute geschafft.

Der Fall von Parviz steht exemplarisch für Tausende andere. Wer vom Bamf abgelehnt wird und dagegen klagt, landet automatisch beim Verwaltungsgericht. Dort versuchen die Anwälte in der Regel, den Bescheid mit drei Anträgen zu kippen. Erster Ansatz: Schutz als Asylberechtigter oder gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer bedroht oder verfolgt wird, zum Beispiel wegen seines Glaubens oder seiner sexuellen Orientierung, kann ein langfristiges Bleiberecht erhalten.

Wenn das nicht in Frage kommt, plädieren die Kläger häufig auf subsidiären, also zeitweiligen Schutz. Solange Bürgerkrieg im Heimatland herrscht, dürfen die Antragsteller dann in Deutschland bleiben. Erübrigt sich der Fluchtgrund, müssen die Menschen wieder zurückkehren. Das könnte einmal auf viele Syrer zutreffen.

Wenn diese beiden Optionen ausscheiden, geht es wie im Fall von Parviz aus Afghanistan häufig darum, einen Abschiebestopp zu erreichen. Gibt es Gründe, die gegen eine Rückführung sprechen? Wenn das Gericht einen Stopp verhängt, darf der Kläger zumindest ein Jahr in Deutschland bleiben. Danach muss das Bamf die Lage des Schutzsuchenden neu prüfen und bewerten.

Abgelehnt hat die Behörde auch den 16-jährigen Mohmadullah, den zweiten Fall von Richterin Furthmann an diesem Tag. Als Minderjähriger wird er vom Jugendamt des Landkreises Harz begleitet. „Die Taliban sind immer zu uns nach Hause gekommen“, erzählt der Afghane. „Mein Vater sollte dafür sorgen, dass ich mich ihnen anschließe. Sonst würden sie mich umbringen, haben sie gesagt.“ Dann habe sein Vater ihn fortgeschickt, um ihn zu schützen.

Mohmadullah kommt aus Nangarhar, einer umkämpften Provinz mit großen innerstaatlichen Konflikten. Sehr detailliert berichtet er, wie die Gespräche mit den Taliban abliefen. Er benutzt einfache Wörter. „Ich hatte große Angst“, sagt er, die Augen geweitet. „Sie klopften an die Tür, mein Vater schickte mich raus. Meine Mutter musste Essen für die Männer kochen.“ Dann sei es oft laut geworden, wenn die Krieger den Vater bearbeiteten.

Die Richterin hört aufmerksam zu, geht auf Details ein. Die Angaben sind schwer überprüfbar. Kontakt zu seiner Familie habe er nicht mehr, sagt der 16-Jährige. Als Miriam Furthmann den Jugendlichen am Ende fragt, ob er noch etwas sagen möchte, antwortet dieser: „In Afghanistan sind erst vor ein paar Tagen wieder Bomben explodiert. Ich möchte hier leben, in Sicherheit. Ich will die Schule besuchen und mich an die Gesetze halten.“

Miriam Furthmann lässt durchblicken, dass er auf jeden Fall mit einem Abschiebestopp rechnen kann, vielleicht auch mit subsidiärem Schutz, da die Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar aktuell schlecht ist. Mohmadullah fährt erleichtert zurück nach Hause, er wohnt jetzt in Königshütte.

Inzwischen ist es Mittag. Zehn Minuten Pause, kurz durchlüften. Der Nächste, bitte! Es geht ein wenig zu wie am Fließband, Fall Nummer drei wartet bereits. Auch der 18-jährige Mobin kommt aus Afghanistan – wie nahezu fast alle Kläger, die bei Miriam Furthmann vorsprechen. Die Kammern spezialisieren sich auf einige wenige Länder. Sie sollen die Hintergründe der Konflikte kennen und so fundierte Entscheidungen treffen. Bei Afghanen liegt die Aussicht auf Klageerfolg laut Anwälten derzeit bei rund 50 bis 60 Prozent, bei Menschen aus Syrien und Eritrea noch höher.

Im Saal leiten die Richter die Verhandlungen allein – jeder soll so viele Fälle wie möglich bearbeiten, um den Stau der Verfahren aufzulösen. Die Verantwortung ist groß: Sie entscheiden letztlich allein darüber, wer bleiben darf und wer gehen muss.

Mobin kommt aus der Hauptstadt Kabul. Das Haus seiner Eltern liegt auf einem Berg, die Taliban hätten es als Gefechtsort beschlagnahmt, berichtet er. Bei einer Schießerei mit Regierungstruppen sei er verletzt worden. Mobin zeigt auf Narben an seinem linken Oberarm. Sein Schwager arbeitet bei der Polizei. Deshalb hätten die Taliban die gesamte Familie bedroht. „Ich habe mich gefürchtet, verschleppt oder entführt zu werden“, sagt der 18-Jährige. „Meinem Bruder haben sie ein Ohr abgeschnitten.“

Ob es stimmt? Richterin Furthmann verzieht keine Miene. Sie nimmt es zur Kenntnis. Während der 18-Jährige sein Leid klagt, ist draußen der Jubel von Schulkindern zu hören. Sie spielen direkt neben dem Gerichtsgebäude vergnügt in ihrer Hofpause. Für Mobin, fast selbst noch ein Kind, geht es um alles. Sein Anwalt versucht die Richterin zu überreden, dass sie anders als das Bamf auf persönliche Fluchtgründe urteilen müsse. Miriam Furthmann schaut wenig überzeugt drein. „Ich weiß noch nicht, wie ich entscheiden werde“, sagt sie.

Sehr häufig hat die Richterin mit jungen Männern zu tun. Doch am Nachmittag betritt eine alte Frau den Gerichtssaal – Fall Nummer vier für heute. Atefa hat graue Haare, die sie unter einem weißen Kopftuch versteckt. Die Richterin beginnt wie immer mit den Formalitäten. „Die Beklagte ist ordnungsgemäß geladen worden“, stellt sie fest und spricht es in ihr Diktiergerät.

Nur – „die Beklagte“ erscheint nie im Gerichtssaal. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nimmt an den Verhandlungen grundsätzlich nicht teil. Das erschwert die Ursachenforschung, Richter und Anwälte können keinerlei Rückfragen zur Entscheidung der Behörde stellen.

Bei der Afghanin Atefa wäre es hilfreich gewesen, zu wissen, wie ihre Befragung im Bamf damals abgelaufen ist. Das Protokoll unterscheidet sich in Teilen stark von dem, was sie im Gerichtssaal angibt. „Haben Sie Ihren Übersetzer beim Bundesamt verstanden?“, fragt Richterin Furthmann. „Nein“, antwortet die Frau. Dieser sei Iraner gewesen und habe ganz andere Wörter gebraucht, erklärt sie. Also muss die Justiz mehr oder weniger die Arbeit des Bamf übernehmen und den Fall fast komplett von vorne aufrollen.

Auch im Gerichtsaal geht ohne Übersetzer nichts. Einer, der diesen Job übernimmt, ist Kader Wadan. Der Afghane lebt seit mehr als 40 Jahren in Deutschland und ist eigentlich Programmierer. Nebenberuflich ist er als Dolmetscher tätig. Er spricht verschiedene Dialekte, zum Beispiel Paschto und Dari.

Mehr als Hundert Verfahren hat er bereits begleitet. „Ich bewundere die Richter, wie sie in jedem Fall zu einer Entscheidung kommen“, sagt er. „Das ist hier oft wirklich nicht einfach.“ Seine Erfahrung sei, dass gerade die einfachen, eher ungebildeten Menschen die ehrlichsten sind. „Wer mehr gebildet ist, fügt gerne auch mal ein paar Prozent zu seiner Geschichte hinzu – das ist zumindest mein Eindruck“, sagt Kader Wadan.

Geduldig übersetzt er die Geschichte von Atefa. Sie hat eben nicht, wie es im Bamf-Protokoll steht, 22 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet. Sie war als Putzfrau in dem Militärkrankenhaus beschäftigt, klärt sie auf. Ihre Tochter war für die Sicherheitsbehörden in Kabul tätig. Deswegen ist die ganze Familie regelmäßig von den Taliban bedroht worden, erzählt die alte Frau.

Eines Nachts wurden ihr Mann und ihr Schwiegersohn umgebracht. Nach weiteren Drohanrufen flohen die Frauen. Atefa kann damit rechnen, dass sie länger in Deutschland bleiben darf, gibt die Richterin zu verstehen. Dass ihre Tochter gearbeitet habe, noch dazu bei einer staatlichen Institution, widerspreche dem patriarchalischen System in Afghanistan völlig, sagt Miriam Furthmann. Die Bedrohungslage sei in diesem Fall relativ eindeutig.

Noch ein letztes Mal für heute diktiert die Einzelrichterin alles ganz genau in das Sprachgerät. Dann schließt sie die Verhandlung. Atefa, die alte Frau, geht gebückt und schlurfend aus dem Gerichtssaal.

Innerhalb von zwei Wochen muss Miriam Furthmann über diesen und die drei anderen Fälle urteilen. Wer muss gehen, wer darf bleiben? Für die Flüchtlinge ist das eine Entscheidung, die ihre Lebensperspektive prägen wird. Für die Richterin ist die Abwägung Alltag. Auf ihrem Tisch stapeln sich bereits Dutzende weitere Fälle.