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Jubiläumsjahr Überall Luther

Bei den Planungen für das Fest der Superlative im Jahr 2017 kommen sich Kirche und Staat so nahe wie lange nicht mehr.

Von Hagen Eichler 30.08.2016, 01:01

Coburg/Erfurt/Wittenberg l Nicht zu glauben, was dieses gläserne Trinkgefäß erlebt haben soll. Von Kreuzrittern aus dem Heiligen Land nach Europa verschleppt, nacheinander im Besitz zweier heiliger Frauen – eine davon, Hedwig von Schlesien, verwandelte darin wunderbarerweise Wasser in Wein. Noch viel wunderbarer: Der Hedwigsbecher gehörte später auch Martin Luther. Der Reformator trank daraus, man weiß das aus Aufzeichnungen. „Eine echte Luther-Reliquie“, sagt Klaus Weschenfelder halb andächtig, halb spöttisch. Als Museumsdirektor auf der Veste Coburg in Franken ist er Hüter der zerbrechlichen Kostbarkeit. Im kommenden Jahr will er sie als Glanzstück einer großen Reformations-Ausstellung präsentieren. Der Luther-Becher soll die Touristen scharenweise auf seine bayerische Burg locken.

Luther? Bayern?

Wer den Lebensweg des Reformators kennt, denkt an Eisleben und Erfurt, Wittenberg und die Wartburg. Doch zum 500. Reformationsjubiläum wird jedes Detail in Luthers Leben ausgeleuchtet. Wer Authentisches beisteuern kann, steigt ein in den großen Wettkampf um die Luther-Touristen. Es geht um Eintrittsgelder, Souvenir-Verkäufe, Hotelbetten und die Ankurbelung der örtlichen Gastronomie.

Auf der Veste Coburg lebte Luther 1530 für ein halbes Jahr. Kurfürst Johann der Beständige versteckte ihn dort, während er auf dem Reichstag für die Reformation stritt. In zwei noch erhaltenen Räumen mit dunklen Deckenbalken verfasste Luther wie ein Getriebener Briefe und Bekenntnisschriften. „Reformationsgeschichtlich war Coburg wichtiger als die Wartburg“, folgert Museums-Chef Weschenfelder.

Was man wissen muss: Die Wartburg ist unter allen Luther-Stätten der stärkste Touristenmagnet. 350 000 Menschen kommen jährlich, um den Ort zu sehen, an dem Luther mit dem Tintenfass nach dem Teufel warf. Zufall oder nicht: Den Teufel soll Luther auch in Coburg gesichtet haben.

Dass die gewaltige Burganlage im Norden Frankens kaum mit dem Reformator in Verbindung gebracht wird, liegt an den überaus dicken Mauern und Türmen. Coburg wurde nach Luthers Besuch zur Festung ausgebaut. Neugierige waren nicht willkommen. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts blieb das Fallgitter unten, als Luther-Stätten profilierten sich andere Orte.

Für den Freistaat Bayern ist das Reformationsjubiläum die Chance, sich im Kreis der Luther-Länder einen Platz zu erkämpfen. Coburg wird vom kommenden Mai an Schauplatz der Bayerischen Landesausstellung, Titel: „Ritter, Bauern, Lutheraner“. Herausragende internationale Leihgaben sollen die historischen Räume ergänzen. 1,9 Millionen Euro steckt Bayern in die Entwicklung der Ausstellung.

Andere Länder lassen sich das große Luther-Gedenken noch weitaus mehr kosten. In der Öffentlichkeit herrscht die Vorstellung, das Reformationsjubiläum sei ein Jubelfest der Christen, quasi ein Kirchentag im XXL-Format. Tatsächlich aber ist der Staat überall dabei. In zwei Beschlüssen hat der Bundestag das anstehende Gedenkjahr gewürdigt – es gibt kein anderes historisches Ereignis, das vom Parlament derartig wichtig genommen wird. Bund, Länder und Gemeinden planen die Veranstaltungen Hand in Hand mit der evangelischen Kirche. Der weltanschaulich neutrale Staat und das organisierte Christentum kommen sich so nahe wie seit langem nicht mehr.

In Wittenberg etwa agiert die Staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“. Parallel betreibt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre Geschäftsstelle „Luther 2017 - 500 Jahre Reformation“. Beide haben ihren Sitz im gleichen Haus am Marktplatz. Gesteuert werden sie durch ein Kuratorium, darin vertreten: sieben Ministerpräsidenten, zwei Bundesminister, Bischöfe und Kirchenleute. Den Vorsitz hat EKD-Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm.

Wie erklärt man diese Partnerschaft in Ostdeutschland, wo die Mehrheit die Kirche distanziert bis ablehnend beäugt?

Erfurt, die Historische Bibliothek des Augustinerklosters. Eine gewölbte Holzdecke, die Regale an den Wänden sind vollgestopft mit theologischer Literatur. Gut möglich, dass der Augustinermönch Martin Luther einige der Bände in den Händen hatte. „Mein Lieblingsort hier in Erfurt, von Anfang an“, sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, als er vor einer Journalistenschar Platz nimmt. Der Linken-Politiker und evangelische Christ verkauft das Reformationsjubiläum als „Selbstvermessung des Heutigen“. Es gehe um das Nachdenken über die Werte, die uns prägten.

Was aber, wenn Luther den heute Lebenden überhaupt nichts mehr sagt? Ist das Reformationsgedenken ein volkspädagogisches Vorhaben, Herr Ramelow? Der Ministerpräsident wird ungehalten. „Es geht nicht um Umerziehung. Ich möchte ungern in eine Reihe mit Margot Honecker gestellt werden.“ Niemand plane eine religiöse Wiedererweckung Thüringens. „Aber ein Land völlig geschichtslos zu erzählen, funktioniert nicht. Alle sind aufgefordert, unsere Geschichte mit Stolz zu erzählen.“

Für Thüringen gehört das Augustinerkloster dazu, in dem Luther als Mönch betete. Die Universität, an der er studierte. Und natürlich die Wartburg, auf der Luther das neue Testament ins Deutsche übertrug. „Für alle, die aus Richtung Westen kommen, ist die Wartburg das Portal zur Reformation“, freut sich Ramelow. Soll heißen: Wer nach Wittenberg will, kommt an seinem Land nicht vorbei.

Die Gedenk-Akteure sind Partner und Konkurrenten zugleich. „Hier ist Luthers Heimat“, heißt es in Eisleben (Sachsen-Anhalt). „Hier wurde sein Denken geformt“, heißt es in Erfurt (Thüringen). „Hier begann die Reformation“, kontert Wittenberg (Sachsen-Anhalt).

Nicht immer klappt die Zusammenarbeit. Eine für 150 000 Euro entwickelte Smartphone-App namens „Luther to go“ leitet Touristen auf einem 1000 Kilometer langen Rundweg zu Luther-Stätten. Aber: Sämtliche Wanderziele liegen in Thüringen. Wer sich auf die App verlässt, wird von Wittenberg nichts erfahren. Woran liegt’s? „Wir wollten gern alle reformatorisch geprägten Orte einbeziehen. Aber unsere Einladung wurde ausgeschlagen“, bedauert Thüringens Touristik-Chefin Bärbel Grönegres.

Da, wo sich die Veranstalter einig sind, setzen sie beim Marketing ganz auf die Figur Luthers. Die drei nationalen Sonderausstellungen (siehe Infokasten) werben gemeinsam mit dem schlichten Bild eines Hammers – auch wenn es überhaupt keinen Beleg gibt, dass Luther seine Thesen tatsächlich an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hat.

Der Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, ein exzellenter Kenner der komplizierten Reformationsgeschichte, hat keine Bedenken gegen den Einsatz von Legenden, im Gegenteil. „Aus Wittenberger Perspektive sage ich: Er hat wirklich gehämmert“, versichert Stefan Rhein im Brustton der Überzeugung. Details können Interessierte ja in den Ausstellungen erfahren – Hauptsache, sie machen sich auf den Weg.

Skepsis gegen den übergroßen Martin Luther gibt es nicht einmal bei Sachsen-Anhalts bekanntestem Katholiken, Reiner Haseloff. Der Ministerpräsident steht an einem Sommerabend in Wittenberg im gerade eröffneten Melanchthongarten zwischen frisch angelegten Kräuterbeeten, zum Termin ist er mit seiner Frau Gabriele zu Fuß gekommen. Das überlieferte katholische Feindbild vom entlaufenen Mönch, der die Kirche spaltet, spielte in seinem eigenen Weltbild nie eine Rolle. „Für uns Wittenberger war Luther immer eine Integrationsfigur“, beteuert Haseloff.

Der Politiker, dessen Familie in der Stadt schon 1423 nachweisbar ist, sieht die geschichtliche Dimension des Jubiläums, die Reformation als Ursprung des eigenverantwortlichen und solidarisch handelnden Menschen. „Und deshalb ist die Reformation auch wichtig für die Leute, die an den lieben Gott nicht glauben können.“

Und nebenbei, schwärmt Haseloff, wird die Kleinstadt für Monate im Zentrum der Öffentlichkeit stehen. „Die Welt versammelt sich in Wittenberg – das wird wie zu Luthers Zeiten.“