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Vom Workshop ins Gefängnis Erdogan stellt auch Merkel auf die Probe

Mit der erneuten Inhaftierung von Menschenrechtlern provoziert die Türkei erneut den Westen. Amnesty International ruft zu weltweitem Druck auf den türkischen Präsidenten auf. Merkel hält sich zurück.

Von Kristina Dunz und Can Merey, dpa 18.07.2017, 16:30

Berlin (dpa) - Für Magdalena Freudenschuss ist das völlig absurd. Ihr Lebensgefährte, der Menschenrechtler Peter Steudtner, fährt zu einem Stressbewältigungs-Workshop nach Istanbul und landet wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation in Untersuchungshaft.

Wann Freudenschuss den 45-jährigen Familienvater wiedersehen wird, steht in den Sternen. So wie das Schicksal des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, der seit bald 150 Tagen - ohne Anklageschrift - in Isolationshaft sitzt. Ihm wird "Terrorpropaganda" und "Aufwiegelung der Bevölkerung" vorgeworfen.

Am Dienstag verhängte ein Richter Untersuchungshaft gegen Steudtner aus Berlin, die Landesdirektorin von Amnesty International, Idil Eser, und vier weitere Menschenrechtler. Freudenschuss hofft nun auf deutsche Verhandlungskunst. Auf dass es der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gelinge, "auf diplomatischem Weg die Freilassung dieser Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen und auch Peters zu erreichen". Die Frau von Deniz Yücel, Dilek Mayatürk-Yücel, wirkt skeptischer. Auf die Frage, ob die Bundesregierung genug unternehme, um ihren Mann freizubekommen, sagte sie kürzlich: "Um das zu beantworten, müsste ich wissen, was genau unternommen wird."

Das wüssten viele gern. Vor allem das Kanzleramt hält sich mit öffentlichen Äußerungen oft zurück. Während viele Politiker am Dienstag Konsequenzen fordern, zeigt sich die Bundesregierung nur besorgt. Merkels Position ist, dass es mehr bringe, solch hochsensiblen Fragen vertraulich und gesichtswahrend mit der Gegenseite zu besprechen. Doch mit Erdogan ist das bisher nicht von Erfolg gekrönt. Die Grünen sprechen von Kuschelkurs.

Die Türkei untersagte Bundestagsabgeordneten, die Bundeswehr in Incirlik zu besuchen, weil Deutschland türkischen Offizieren nach dem Putsch in der Türkei vor einem Jahr Asyl gewährt hat. Deutschland gab Incirlik als Standort auf und fliegt Aufklärungsflüge gegen den IS künftig von Jordanien aus. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) betonte im Juni in Ankara zum Bundeswehrabzug: "Wir wollen das mit unseren türkischen Kollegen in großer Friedfertigkeit machen, ohne große Auseinandersetzungen." Sein türkischer Kollege Mevlüt Cavusoglu versicherte, ein Besuch deutscher Abgeordneter in Konya sei ja möglich.

Danach verhinderte die politische Führung der Türkei wegen der angespannten bilateralen Beziehungen aber auch einen Besuch von deutschen Parlamentariern bei den deutschen Soldaten in Konya, von wo aus die Nato AWACS-Aufklärungsflüge gegen die Terrormiliz IS startet. Merkel findet "das Ganze misslich, ausgesprochen misslich". Mehr aber auch nicht. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, findet, die Merkel-Regierung lasse sich vorführen. Es stelle sich die Frage der Selbstachtung, sagt er dem Sender n-tv.

Im Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Minister in Deutschland im Frühjahr hatte Erdogan die Deutschen im Allgemeinen und Merkel im Speziellen mit Nazi-Vorwürfen überzogen. Gleichzeitig warb Cavusoglu auf der Tourimusmesse ITB in Berlin um deutsche Urlauber. Danach wurde Ankara in Berlin mit der Bitte um Wirtschaftshilfen vorstellig, Yücel saß da schon in Haft. Erdogan kann darauf bauen, dass Berlin auf Ausfälle jedweder Art - die ihm stets Beifall seiner Anhänger bescheren - besonnen reagiert.

Weniger besonnen reagierte hingegen Kremlchef Wladimir Putin im Streit um den Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei: Er verhängte so harte Sanktionen, dass Erdogan sich entschuldigte. Dass die russische Wirtschaft ebenfalls litt, nahm Putin in Kauf.

Der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Markus N. Beeko, verlangt nun: "Alle Staats- und Regierungschefs sind gefordert, Druck auszuüben." Theoretisch hätte die EU ein mächtiges Druckmittel im Repertoire: Die Zollunion. Sie regelt seit 1996, dass im Handel zwischen der EU und der Türkei die meisten Waren zollfrei aus- oder eingeführt werden können. Die Bundesregierung argumentiert, vor einer von der Türkei gewünschten Ausweitung der Zollunion müsse Ankara sich bewegen. Berlin setzt also auf Zuckerbrot statt Peitsche.

Dabei könnte die Bundesregierung auch mit einer Aufkündigung der Zollunion drohen, selbst wenn das Stress mit der deutschen Wirtschaft geben würde. Die Zollunion ist Erdogan wichtiger als die EU-Mitgliedschaft. Vor der Präsidentenwahl 2019 ist er darauf angewiesen, dass er die Wirtschaft am Laufen hält. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth fordert jetzt: Schluss mit Waffenlieferungen, Finanzhilfen an die staatlichen Institutionen und mit den Vorbereitungen für die Erweiterung der Zollunion.

Eine andere Frage, die die Bundesregierung stellen könnte, um Druck auf Ankara auszuüben: Die nach der Visumfreiheit. So gut wie unbekannt ist in der deutschen Öffentlichkeit, dass die Visumfreiheit bereits für mehr als jeden zehnten Besitzer eines türkischen Reisepasses gilt. Dabei handelt es sich sogenannte grüne Pässe, eine Art Mittelding zwischen Diplomaten- und normalem Pass.

Anspruch auf die begehrten Dokumente, mit denen sich visumfrei in den Schengen-Raum reisen lässt, haben beispielsweise ehemalige Minister, Parlamentarier und hohe Staatsbeamte mit ihren Familien. Dass die Türkei im Gegenzug die Visumpflicht für Deutsche einführen könnte, ist unwahrscheinlich: Sie hofft darauf, dass die deutschen Touristen wiederkommen, die die Türkei derzeit weiträumig meiden.

Da ist aber noch der Flüchtlingspakt der EU und der Türkei. Merkel hat kein Interesse daran, dass Erdogan die Eskalationsspirale mitten im Bundestagswahlkampf noch ein bisschen weiter dreht und Flüchtlinge wieder weiterziehen lässt. Zwar würden sie nicht gleich in Deutschland ankommen, aber die Kanzlerin müsste dann mit den anderen EU-Staaten sehr schnell eine Alternative finden. Bisherige Erfahrungen innerhalb der EU sind für sie enttäuschend. Von Solidarität und Hilfsbereitschaft war bislang wenig zu spüren. Und wenn etwas ein Schreckensszenario für Merkel und die Union ist, dann die Erinnerung an die Flüchtlingskrise 2015.