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AnalphabetismusSteiniger Weg zu den Buchstaben

Lutz Müller erzählt, wie er sich als Analphabet durchs Leben mogelt und wie schwer es ist, als Erwachsener Lesen und Schreiben zu lernen.

Von Yvonne Heyer 06.11.2015, 00:01

Landkreis Börde l Beinahe in jedem Angebotsheft der Kreisvolkshochschule werden Kurse für Erwachsene angeboten, damit diese Lesen und Schreiben lernen. Wohlgemerkt: Diese Kurse richten sich nicht an ausländische Bürger, die Deutsch lernen sollen oder wollen. Nein, die traurige Statistik besagt, in Deutschland würden sieben Millionen Menschen nicht ausreichend Lesen und Schreiben können. Diese Zahl stammt aus einer Studie der Jahre 2011/2012.

„Wir arbeiten zunehmend mehr mit den Jobcentern zusammen. Dort fallen jene Menschen, die des Schreibens und Lesens kaum mächtig sind, zuerst auf, weil sie kaum in Jobs vermittelt werden können“, berichtet Katrin Kunze, Programmbereichsleiterin an der Kreisvolkshochschule. Im Bereich des Jobcenters des Landkreises Börde seien etwa 40 Männer und Frauen bekannt, wie Karsten Werner vom Jobcenter bestätigt. Doch der Besuch eines Alphabetisierungskurses sei rein freiwillig, gezwungen könne und werde niemand. „Damit würde man den Erfolg von vornherein in Frage stellen. Der feste Wille, Lesen und Schreiben zu lernen, müsse schon da sein. Es gibt auch Personen, die sich mit ihrem Problem an uns wenden. Doch sie sind in der Minderheit. Oft besteht auch eine große Scham und daher sehen wir diese Menschen als besonders schutzwürdig an“, macht der Mitarbeiter des Jobcenters deutlich.

Die Alphabetisierungskurse für Erwachsene werden aus dem Europäischen Sozialfonds gefördert. Die Kosten pro Person können nicht genau beziffert werden, sind bei jedem Mann oder jeder Frau unterschiedlich. Gelernt wird in kleinen Gruppen. An der Volkshochschule in Oschersleben beispielsweise gibt es sogar Einzelunterricht. Diesen erteilt Christa Tott.

Zu ihr kommt auch Lutz Müller (Name wurde von der Redaktion geändert). Im wahrsten Sinne des Wortes hat er sich durch die Schule gemogelt. „Ich habe oft gefehlt, bin in schwierigen Familienverhältnissen groß geworden“, erinnert er sich. Trotz der großen schulischen Probleme ward ihm der Weg zu einer Förderschule nicht geebnet. Das wurde erst mit der politischen Wende in der DDR möglich. Lutz Müller hat einen Schulabschluss und sogar eine Lehrausbildung begonnen. Nicht an jeder Ausbildungsstätte gab es dafür Verständnis, dass er eine Sonderbehandlung bekam, Prüfungen nicht schriftlich, sondern mündlich ablegen durfte. Aber gerade jene Sonderbehandlungen riefen den Neid anderer hervor. Lutz Müller ist ein klassisches Beispiel dafür, warum Menschen, die nicht lesen und schreiben können, dieses lieber nicht an die große Glocke hängen, sich nicht outen, stattdessen Meister darin sind, zu verheimlichen, zu tricksen und zu mogeln. Schnell werden diese Menschen in die Ecke der Asozialen gedrängt. Da schweigen sie lieber. Wie viele andere Analphabeten ist Lutz Müller ein wahrer Meister im Auswendiglernen. „Viele Analphabeten haben eine sehr ausgeprägte Merkfähigkeit, so gleichen sie ihre Defizite aus“, weiß Christa Tott aus Erfahrung.

Schwieriger werde die Situation für Analphabeten, wenn Kinder da sind. Ihnen die Wahrheit sagen? Nie bei den Hausaufgaben helfen können? Von ihnen fordern, in der Schule gut zu sein und selbst? Für Lutz Müller war dies der Hauptgrund, warum er so lange, beinahe zehn Jahre, darum gekämpft hat, Lesen und Schreiben zu lernen. Und er hofft, dass noch möglichst lange die Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds fließen, damit er tatsächlich sein großes Ziel erreichen kann. „Meine Einstellung zu Geschriebenem hat sich bereits geändert“, meint er. Dennoch ist er sich bewusst, dass er noch einen weiten Weg vor sich hat.

Für Jemanden, für den das Lesen und Scheiben etwas völlig Normales ist, weil es zum Leben einfach dazugehört, sei es kaum vorstellbar, wie ungleich schwerer es als Erwachsener ist, das Versäumte nachzuholen. „Ein ABC-Schütze lernt die Buchstaben und daraus Silben und schließlich Wörter zu bilden. Diese Fähigkeit ist bei den meisten Analphabeten zumeist gänzlich auf der Strecke geblieben“, berichtet Christa Tott. (Siehe Infokasten und versuchen Sie, liebe Leser, diesen Text einmal zu lesen.) Auch deshalb beginnt der Alphabetisierungskurs in der Regel mit dem Test, welche Buchstaben bekannt sind, wie sehr die Fähigkeit ausgeprägt ist, Silben und Wörter zu bilden. Auch die Zahlen werden getestet.

Lutz Müller ist auf einem guten Weg. Das sieht auch Christa Tott so. Nicht nur seinen Kindern zuliebe möchte er irgendwann, wie jeder andere auch, lesen und schreiben können. Sein großes Vorbild ist Tim-Thilo Fellmer. Aus dem Analphabeten wurde ein Kinderbuchautor. Mit seinen Büchern möchte er auch darauf aufmerksam machen, dass es in unserer sogenannten Leistungsgesellschaft auch Menschen gibt, die eben anders sind. Und sie sollen anders sein dürfen.