1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Schönebeck
  6. >
  7. Fabrikantenfamilie prägt Calbe

Gedenktafel für Nicolai-Dynastie Fabrikantenfamilie prägt Calbe

Über 200 Jahre förderte die Fabrikanten-Familie Nicolai die
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Saalestadt und
hat bis heute Spuren hinterlassen. Gestern wurde an der ehemaligen
Wolldeckenfabrik feierlich eine Gedenktafel eingeweiht.

Von Andreas Pinkert 15.05.2014, 03:19

Calbe l "Wir sind beim Erwerb des Hauses auf die beeindruckende Geschichte dahinter gestoßen", sagt Wolfgang Schuth. Der Landesgeschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (Awo) konnte bei strahlendem Sonnenschein zahlreiche Gäste vor der heutigen Wohnanlage Am Saalebogen in Calbe begrüßen, darunter Bürgermeister Dieter Tischmeyer, die beiden Bürgermeisterkandidaten Alexander Berlin und Sven Hause sowie zahlreiche Stadträte. Feierlich wurde eine Erinnerungstafel enthüllt, die an die bedeutende Nicolai\'sche Familiendynastie erinnert. Gestiftet wurde die schlichte Tafel am Eingang des Gebäudes von Historiker Arne Lietz in Zusammenarbeit mit dem Calbenser Heimatverein. So war es auch Vereinsmitglied Hanns Schwachenwalde, der den Anwesenden viel Wissenswertes aus der Historie berichten konnte. "Ich weiß einiges, da ich noch mit den Nicolai-Zwillingsmädchen zur Schule gegangen bin", so der Calbenser.

1733 zog die Fabrikantenfamilie Nicolai aus Burg in die Saalestadt und sollte seitdem innerhalb des Gemeinwesens der Stadt vieles bewegen. Die stetig expandierende Firma Nicolai zeichnete sich durch wegweisende Innovationen aus. Die von den Urenkeln Alexander und Adolph Nicolai in der Breite 42/43 geleitete Fabrik - deren Überrest heute ein klägliches Dasein führt - gehörte zu den ersten in ganz Preußen, in der eine Dampfmaschine die Wollstoffproduktion um ein Vielfaches steigerte. In den 1840er "Hungerjahren" verteilten die Gebrüder Nicolai Lebensmittel an ihre Arbeiter zu niedrigen Preisen. Adolph Nicolai, der neben Dr. Wilhelm Loewe führende Linksliberale in Calbe, wurde 1848 wegen revolutionärer Umtriebe vor Gericht gestellt.

Aus Gründen des Umweltschutzes und der besseren Wasserversorgung ließen die Brüder Adolf und Hans Nicolai 1851 eine moderne Fabrik über dem Saalebogen errichten. Für die Arbeiter wurden am Fuße der Fabrik in der "Kleinen Fischerei" schmucke werkseigene Häuser gebaut, die mit Stallungen und Gärten ausgestattet waren. Der geschichtsinteressierte Sohn Adolf Nicolais und neue Chef des Unternehmens, Johann ("Hans") Nicolai, organisierte nicht nur die Verschönerung Calbes und seiner Umgebung, sondern restaurierte auch auf eigene Kosten einige städtische Denkmäler. Obwohl einer seiner Söhne und sein Neffe im Ersten Weltkrieg an der Westfront gefallen waren, veranlasste Hans Nicolai die würdige Sanierung des Grabmals der französisch-hugenottischen Einwandererfamilie Tournier als ein Zeichen gelebter Toleranz.

Sein Sohn Siegfried leitete 20 Jahre lang die Fabrik, die nach der Enteignung 1945 in einen volkseigenen Betrieb umgewandelt wurde. Der Fabrikbetrieb - zuletzt nur noch von Wolldecken - wurde bis 1990 weitergeführt. Nach der Rückübergabe an die Familie Nicolai wurde das gesamte Areal verkauft. Die inzwischen unter Denkmalschutz stehende Anlage befindet sich seit 2010 im Besitz des Awo-Gesundheitszentrum Calbe, einem Tochterunternehmen des Awo-Landesverbandes Sachsen- Anhalt. Mehr als 50 Wohn- und Gewerbeeinheiten befinden sich heute auf dem Gelände. Zu den Mietern des Areals gehören neben dem Johanniter-Rettungsdienst auch Senioren und Familien der Wohnan- lage.

Eine von ihnen ist Ilse Ihlo. Sowohl sie als auch ihre Tante und Onkel, Emma und Friedrich Wegener, hatten viele Jahre in der Wolldeckenfabrik gearbeitet. Heute fühlt sich die Calbenserin in den Mauern der ehemaligen Wolldeckenfabrik, ihrer einstigen Arbeitsstätte, wohl. "Gut, dass man an die Tradition erinnert", findet sie.

Hanns Schwachenwalde nutzte die Gelegenheit, um auf eine verwitterte Inschrift eines großen Findlings am Verschönerungsweg aufmerksam zu machen, der auch auf das Wirken der Nicolai-Familie hin entstanden ist. Vielleicht findet sich ein Unternehmer mit Gemeinsinn, der die Inschrift erneuern lassen würde.