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  7. Geschichten zwischen Elbe und Fläming: Erster Traubenzucker, erstes Auto ... erster DDR-Konkurs

Wiege der deutschen Traubenzuckerproduktion stand in Barby / 1924 gingen die Deutschen Maizenawerke in Betrieb. Von Thomas Linßner Geschichten zwischen Elbe und Fläming: Erster Traubenzucker, erstes Auto ... erster DDR-Konkurs

17.10.2014, 01:10

Von 1922 bis 1924 baute die US-Firma "Corn Products Company" das amerikanische Serienmodell einer Maisstärkefabrik in Barby. Die Maizena wurde als erste Maisstärkefabrik Europas eröffnet. Heute erhebt sich an dieser Stelle nur noch eine gigantische Ruinenlandschaft, deren Zukunft nachwievor ungewiss ist.

Barby l Wenn Alfred Backhaus mit seinem offenen Kraftwagen durch Barby holperte, liefen ihm die Schulkinder begeistert hinterher. Der junge Mann hatte das Glück, den amerikanischen Oberbauleiter fahren zu dürfen. Nach dem verlorenen Weltkrieg und der zehrenden Inflation war man froh, einen Job beim Bau des Riesenwerkes vor den Toren der Elbestadt gefunden zu haben.

Die Amerikaner sorgten gleich für einen großen und einen kleinen Superlativ im Elbestädtchen:Hier wurde die erste Maisstärkefabrik Europas gebaut; der Wagen des Chefs war das erste Kraftfahrzeug! Die Bauleitung richtete sich im Marienstift ein, das gut zwei Jahrzehnte zuvor als Siechenhaus im Stadtgraben gebaut worden war und heute Awo-Pflegeheim ist.

Das Werk wurde in sensationell-schneller Bauzeit von zwei Jahren errichtet, was zwei Gründe hatte: Die Amerikaner kamen mit einem fertigen Typenprojekt nach Deutschland; hohe Arbeitslosigkeit ließ die Menschen keine großen Ansprüche an den Lohn stellen. Man darf die heutige Floskel gebrauchen: Die Leute waren hoch motiviert ... Was blieb ihnen auch anderes übrig.

Hinzu kam, dass Chauffeur Backhaus die Lohngelder säckeweise von der Bank holte. Es war Inflation. Die bis zu 4000 auf der Baustelle am Weg nach Monplaisir beschäftigten Arbeiter bekamen nach mehreren kleinen Streiks einen Teil ihres Lohnes in Dollar ausbezahlt.

Vollkommen neu war die bauliche Konstruktion. Man goss armierte Betonskelette, die dann wie Fachwerkhäuser ausgemauert wurden.

Dadurch erhöhte sich die Belastbarkeit der Gebäude, deren technische Ausstattung einiges wog. Hinzu kamen Vibrationen der Verarbeitungstechnik. Das mächtige Silo bestand völlig aus Beton. Einige Maschinen wurden aus den USAimportiert, die Mehrzahl kam aus dem mitteldeutschen Raum.

Der erfolgten Industrieansiedlung war ein zähes Ringen des Barbyer Magistrats voraus gegangen. Auch viele andere Orte interessierten sich sehr für diese Investition, die über 500 dauerhafte Arbeitsplätze bringen sollte. (Landrat Voss plädierte beispielsweise für Calbe als Standort.)

Bürgermeister Ohlen blieb hartnäckig

Es ist verblüffend: Die Situation der Weimarer Republik vor 90 Jahren lässt sich mit der Ostdeutschlands nach der Wende vergleichen. Man versuchte auf Biegen und Brechen potentielle Investoren an Land zu ziehen. Besonders dem sozialdemokratischen Bürgermeister Egon Ohlen ist es zu verdanken, dass Maizena der Elbestadt den Vorzug gab.

Ende 1920 war die Maizena-Gesellschaft an die Stadt heran getreten und hatte Interesse signalisiert. Ohlen konnte schließlich mit günstigen Bodenpreisen, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung sowie einem Gleis- und Hafenanschluss argumentieren.

Um andere Mitbewerber aus dem Rennen zu schlagen, setzten sich der engagierte Bürgermeister zusammen mit den Stadtverordneten Sanitätsrat Kabelitz und Krankenkassenrendant Walter Franz 1921 in den Zug nach Hamburg, um eine Entscheidung herbei zu führen. Dort hatte die Deutsche-Maizena-Gesellschaft ihren Hauptsitz.

Was dann geschah, sollte sich später wie eine Wirtschafts-Erfolgsstory lesen. Am ersten Tag verließen die Barbyer frustriert den Verhandlungsort. Die Herren aus USA hatten sich nicht erweichen lassen. Ohlen gab jedoch nicht auf, setzte getreu der alten Handelsvertreter-Methode "Vorne `rausgeschmissen, hinten wieder `rein" alles auf eine Karte.

Am nächsten Tag wurde die Barbyer Abordnung zwar nicht empfangen, aber zu einem Arbeitsessen eingeladen, wobei ein weiteres Gespräch für den Nachmittag vereinbart wurde.

Der Bürgermeister und seine Räte wunderten sich zwar darüber, dass sie beim Eintritt das Hauptportal meiden, dafür etwas konspirativ den Nebeneingang benutzen sollten. Das alles war vergessen, als sie gegen Abend glücklich das Gebäude verließen. Sie hatten die Zusage in der Tasche:Maizena baut in Barby ...

Wieder war es vergleichbar mit der Gegenwart, als die Männer ihren Erfolg im Stadtrat kund taten. Bedenkenträger, die genau wussten, wie es nicht geht, traten auf dem Plan.

Der Inspektor des Rittergutes fürchtete um den Verlust von Arbeitskräften (in der Maizena verdiente man mehr, als in der Landwirtschaft), ein Abgeordneter erhob Einspruch, weil Zugeständnisse an die Investoren gemacht wurden ... Doch die Zweifler wurden haushoch überstimmt.

Wieder ein Superlativ: Erster Konkurs der DDR

Für viele Barbyer war die Arbeit im ersten Traubenzuckerhersteller Deutschlands die Chance ihres Lebens. Zu den Bewerbern zählte Johanna Walkhoff (1908-2006), bewarb sich drei Jahre nach Inbetriebnahme des Werkes. Sie arbeitete in einer kleinen Barbyer Spedition, die mehr schlecht als recht zurecht kam. Die Maizen-Werke boten einen sicheren Arbeitsplatz und 100 Mark mehr im Monat.

Johanna Walkhoff marschierte wie ihre Kollegen jeden Tag zu Fuß zur Arbeit. Was in den ersten Monaten ziemlich unangenehm für die Kleidung war, wenn man im Büro arbeitete. Erst als die Stadt 1926 den Barbyer Baumeister Karl Witte mit dem Straßenbau beauftragte, änderte sich das. Die Fahrbahn wurde von Erwerbslosen gebaut (was einer späteren Vergabe-ABM gleich kommen sollte) und gilt als eine der ersten Betonstraßen Deutschlands. Wie aus einem Dokument des Stadtarchivs hervor geht, wurde vom Auftraggeber der Einsatz einer Mischmaschine abgelehnt, "... weil dann nicht genügend Leute Arbeit haben".

Johanna Walkhoff arbeitete bis 1969 in der Maizena, die in jenem Jahr in "VEB Maisan" umbenannt wurde.

Die völlige Verstaatlichung der Aktiengesellschaft verhinderte nicht den vorgezeichneten Weg. Wegen mangelnder Werterhaltungen ging es mit dem stolzen Traditionsbetrieb immer weiter bergab, bis Werkleiter Wolfgang Fischer im Sommer 1990 Konkurs anmelden musste.

Die erste Maisstärkefabrik Europas, die Wiege der deutschen Traubenzuckerproduktion, schaffte am Schluss wieder einen Superlativ: Im VEB Maisan fand der erste Konkurs der Deutschen Demokratischen Republik statt ...