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Im Alter von 62 Jahren verabschiedet sich der Bierer Tierarzt Hans-Herbert Stockmann in den Ruhestand "Was größer ist als eine Luus ..."

Von Massimo Rogacki 20.03.2015, 01:18

Er arbeitet als Tierarzt in Gemeinschaftspraxen, in der industriellen Tierhaltung, betreut Taubenzüchter und hat auch privat ein Faible für große und kleine Tiere. Nun geht der 62-jährige Hans-Herbert Stockmann frühzeitig in den Ruhestand.

Biere l Fridolin hat ein Problem. Der weiß-gelbe Kanarienvogel steckt mit seinem Köpfchen zwischen Tränke und einer Holzstange fest - und piepst verzweifelt. Mit geübten Griff rettet Hans-Herbert Stockmann den Vogel aus der misslichen Lage. Wenn jemand weiß, wie ein Tier angepackt werden muss, dann der Tierarzt aus Biere. Vierzig Jahre hat er sich um die Gebrechen von kleinen und großen Tieren gekümmert. Und nicht selten nebenher noch das eine oder andere menschliche Problem kuriert. Seit März ist der 62-Jährige im Ruhestand. Zeit, Bilanz zu ziehen. Fridolin springt mittlerweile im lichtdurchfluteten Haus der Stockmanns in Biere wieder vergnügt durch seinen Käfig. Den Vogel hatte einer der Söhne der Stockmanns dem Großvater zum 80. Geburtstag geschenkt. Der Opa ist mittlerweile verstorben, Fridolin ist mit 13 Jahren ebenfalls nicht mehr der jüngste, hat Arthrose und kann nicht mehr fliegen. Kein Grund, ihm nicht den bestmöglichen Fensterplatz zu gewähren.

Ein Faible für Tiere hat Stockmann seit jeher. "Was größer ist als eine Luus, das bringt Hans-Herbert nach Huus", hatte es über den kleinen Hans-Herbert auf Platt geheißen. Heute zeugen die Taubenschläge und die Deutsch-Kurzhaar-Hündin Tara von der andauernden Passion Stockmanns für Tiere.

Schicksalsschlag als Vierjähriger

Diese Liebe ist nicht selbstverständlich. 1956 kommt Stockmanns Mutter durch den Tritt eines Pferdes ums Leben. Vier Jahre alt ist er zu diesem Zeitpunkt. Für die Erziehung ist fortan der Vater verantwortlich. Als Stockmanns Tochter eines Tages fragt, ob sie ein Pferd haben dürfe, ist er zunächst wenig begeistert. Ein Schicksalsschlag sei der Tod der Mutter gewesen, sagt Ehefrau Heidemarie Stockmann. Dennoch erfüllte sich der Wunsch der Tochter. Hans-Herbert Stockmann wusste schon als Jugendlicher, dass er Tierarzt werden wollte. Das Studium der Veterinärmedizin in Leipzig meistert er, wie vorgeschrieben, in fünf Jahren.

Stockmann erinnert sich: "Nach dem Studium wurde man gelenkt, man konnte nicht frei entscheiden, wohin man kommt." So absolvierte er seine Pflichtassistentenzeit zunächst im Bezirk Schwerin. Der Werdegang beginnt in der landwirtschaftlichen Tierhaltung, noch heute glühen die Augen, wenn er seine Vorstellungen von Herdengesundheit erläutert. Auch auf einem Schlachthof arbeitet Stockmann. Nach einem Jahr kehrt der Tierarzt in seine Heimat zurück. Seine in Dresden Zahnmedizin studierende Frau Heidemarie erwartet zu diesem Zeitpunkt den ersten Sohn. Stockmann wird nach seiner Rückkehr von einer staatlichen Gemeinschaftspraxis in die andere beordert: auf Barby und Calbe folgt Schönebeck. Einfluss auf seine Versetzungen hat er nicht. Eines Tages wird in Großmühlingen eine moderne Anlage für 1200 Milchkühe gebaut. Stockmann bekommt den Posten. Er wird die Anlage bis 1994 tierärztlich betreuen dürfen. Alle staatlichen Gemeinschaftspraxen werden in jenen Nachwendejahren aufgelöst. Für viele Kollegen kommt das Aus, da die von ihnen betreuten landwirtschaftlichen Betriebe liquidiert werden. "Es brach von einem auf den anderen Tag alles zusammen", erinnert sich der 62-Jährige. Doch auch der damals 40-Jährige Tierarzt überlegt, wie es weitergehen könnte. "Ich stand vor einer Entscheidung. Mache ich in dem Beruf weiter? Mache ich mich als Tierarzt selbständig?" Auch ein Wechsel in die Landwirtschaft steht zur Debatte, Stockmanns Vater unterhält einen eigenen Betrieb. Wenn der Tierarzt heute zurückblickt, bereut er seine Entscheidung, 1990 einer der ersten privat praktizierenden Tierärzte geworden zu sein, nicht.

Bei der Existenzgründung geholfen hat ihm auch seine große Leidenschaft, die Brieftaubenzucht. Er ist überregional tätig, es spricht sich herum, dass er ein Fachmann auf dem Gebiet ist. Nun kommen auch die Rassetauben-, Rassegeflügel- und Kaninchenzüchter, später auch Exoten- und Koi-Liebhaber dazu. "Das war mein Glück, dass ich mich auf vielen Gebieten profilieren konnte und auch die Nachfrage vorhanden war", sagt der Tierarzt. In einigen Bereichen habe er allerdings auch die Erfahrung machen müssen, dass das entsprechende Umfeld nicht vorhanden gewesen sei.

Mit diversen Spezialisierungen hat der Tierarzt aus der Not eine Tugend gemacht. Zur Zeit der Wende gab es im Altkreis Schönebeck 16 praktizierende Tierärzte, unmittelbar danach waren noch sechs Kollegen übrig. "Heute wäre der Standort Biere falsch und Schönebeck oder Magdeburg besser", sagt Heidemarie Stockmann. Stockmanns Strategie entpuppt sich als die richtige, die Praxis überlebt. Seine Vielseitigkeit und die Bereitschaft, sich gegenüber keinem neuen Themenfeld zu verschließen, ist Stockmanns großer Vorteil.

Ein Reh wurde im Haus aufgezogen

Auf einige Episoden seiner langjährigen Tätigkeit kann Stockmann heute mit einem Schmunzeln zurückblicken. Eine Zeit lang habe man ein Rehkitz aufgezogen, berichtet der Tierarzt. Das Muttertier war totgefahren worden, das zwei Tage alte Kitz wurde von einem umsichtigen Bürger gefunden und zum Tierarzt gebracht. Nach einer Woche in der Aufzucht in der Wohnung, baut der Arzt ein Gehege. Doch der Rehbock wird größer. Als der Platz nicht mehr reicht, nimmt Stockmanns Cousin das Tier zu sich. Inzwischen kann man den Bock rufen, er läuft mitunter frei in Biere umher und ist dorfbekannt. "Die zaunfreie Haltung des Tieres am Dorfrand ermöglichte dann eine unkomplizierte Wiederaus- wilderung", erinnert sich Stockmann.

Eine weitere amüsante Episode handelt von der zähen Hundedame Iri. Schon ein erster Geburtsvorgang verlief nicht ohne Komplikationen - die Welpen mussten per Kaiserschnitt geholt werden. Doch Iri und die Hundekinder überleben. Es sollte nicht die letzte Operation bleiben. Iri läuft vor ein Auto und erleidet schwere Verletzungen "Iri wirkte wie ein Flickenteppich, doch die Wunde verheilten", berichtet Stockmann. Später kamen noch kleinere und altersbedingte Operationen hinzu. Die Hündin wurde letzten Endes 17 Jahre alt.

Stockmanns Pläne für den Ruhestand lauten nun: Seine Hündin Tara, die er selbst ausgebildet hat und die schon ausgezeichnete Ergebnisse in den Jagdhundeprüfungen erzielen konnte, in der Jagdpraxis weiter zu führen. Es gibt alte und neue Freundschaften, die der Tierarzt nun intensivieren möchte. Hobbys, für die nun mehr Zeit bleibt, gibt es zuhauf: Jagen, Angeln in Norwegen, ausgiebige Wanderungen auf dem Fjell, Beobachtungen der nordischen Tierwelt und natürlich die Brieftaubenzucht.

Ganz leicht fällt Stockmann der Abschied nicht. Einen Dank richtet er an alle Tierhalter, die ihm in all den Jahren die Treue gehalten haben. "Den größten Dank allerdings", so Stockmann, "möchte ich meiner Frau aussprechen. Ohne ihre Hilfe wäre vieles nicht machbar gewesen." Heidemarie Stockmann wird das Lob gern vernehmen.