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Zeitzeugen erinnern sich Bürgerkomitee: "Hoffentlich überleben wir das"

Als die Stasi Anfang Dezember 1989 in großem Stil Akten vernichtete,
sorgten Oppositionsgruppen dafür, dass die Akten gesichert werden
konnten. Es war die Geburtsstunde der Bürgerkomitees.

Von Wolfgang Schulz 05.12.2014, 01:14

Magdeburg l "Von überall her hörten wir, dass die Stasi Akten vernichte, was die Bevölkerung sehr beunruhigen würde", erinnert sich Waltraut Zachhuber an den 5. Dezember 1989. Die Pfarrerin war Mitorganisatorin der Montagsgebete im Magdeburger Dom. An jenem 5. Dezember vertrat sie die evangelische Kirche bei einer geschichtsträchtigen Tagung in der Bezirksstadt.

An diesem Tag vor 25 Jahren bereiteten Vertreter der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM), der Sozialdemokratischen Partei (SDP), der Kirchen, des Demokratischen Aufbruchs sowie des Rates der Stadt im Magdeburger Rathaus die Gründung des Runden Tisches vor. Doch die Aktenvernichtung löste große Besorgnis aus. "Wir waren auf das höchste beunruhigt von den Vorkommnissen in den Stasi-Dienststellen", berichtet Zachhuber.

Norbert Bischoff vom Katholischen Koordinierungsausschuss habe vorgeschlagen, ein Bürgerkomitee zu bilden. Die Tagung stimmte zu. Norbert Bischoff, der heutige SPD-Sozialminister, Gerhard Ruden (IFM) und Waltraut Zachhuber erklärten sich als erste zur Mitarbeit bereit.

An diesem Tag sei eine Liste mit 15 Kandidatenvorschlägen von den Vertretern der Oppositionsgruppen für das Bürgerkomitee zusammengestellt worden, berichtet Zachhuber. Am nächsten Tag erhielten sie ihre Legitimation durch den Oberbürgermeister der Stadt. (Sechs Vertreter, u.a. des Neuen Forums, wurden am 6. Dezember nachnominiert.)

Eine wesentliche Aufgabe der Bürgerkomitees war, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit zu begleiten, die Akten des MfS zu sichern und eine Anlaufstelle für Beschwerden der Bevölkerung über Amtsmissbrauch und Korruption zu bieten.

Die Stasi sei ja eine Geheimpolizei gewesen, und alles um sie herum war demzufolge geheim und unbekannt gewesen, sagt Waltraut Zachhuber. Man müsse deshalb auch über die Angst reden. Nicht selten habe man sich gesagt: "Hoffentlich überleben wir das."

Eine von jenen, die die Angst überwunden hatten, war die Magdeburgerin Barbara Bunke. Sie wurde von ihrem Betrieb für mehrere Wochen freigestellt, um im Beratungsbüro des Bürgerkomitees zu arbeiten. "An manchen Tagen war ich bis zu zwölf Stunden dort und beantwortete Fragen der Bürger, die in immer größerer Zahl kamen, notierte ihre Anliegen", berichtet sie. "Es gab aber auch welche, die waren nicht auf unserer Seite. Ich habe sogar Morddrohungen erhalten."

Über die Arbeit des Bürgerkomitees berichtet der Dokumentarfilm "Die Staatssicherheit - Die Stasi-Akten - Das Bürgerkomitee". Er wird an diesem Sonntag um 14.30 Uhr im Dokumentationszentrum des Bürgerkomitees am Magdeburger Moritzplatz uraufgeführt. In dem Film schildert Bernhard Notheis, der seit 1999 das Bürgerkomitee bis zu seinem Tod 2011 leitete, wie Mitglieder des Komitees im Fernmeldeamt an der Magdeburger Listemannstraße die Abhöranlagen der Stasi (modernste Siemens-Technik) entdeckt und unbrauchbar gemacht haben.

Zeitzeugen berichten, welche "eisige Mauer des Schweigens" ihnen von Seiten der Stasi-Mitarbeiter entgegengesetzt wurde. In den ersten Tagen hätten MfS-Leute in der Stasi-Bezirksverwaltung im Magdeburger Kroatenweg gefordert, "man wolle in Ruhe weiterarbeiten". Das ließen Bürgerkomitee-Mitglieder nicht zu. Sie forderten am 8. Dezember vom damaligen Regierungschef Hans Modrow, die MfS-Bezirksdienststelle binnen 24 Stunden zu schließen. Modrow, der die Aktenvernichtung angeordnet hatte, gab einen Tag später nach. "Fünf Minuten vor 19 Uhr klingelte das Telefon, und uns wurde mitgeteilt, dass Modrow der Schließung zugestimmt habe", schrieb Harald Wernowsky, der von 1994 bis 1999 Vorsitzender des Bürgerkomitees war und 2004 verstorben ist, in seinen Erinnerungen.

Während nach der Zerschlagung des MfS bis auf wenige Ausnahmen die Komitees aufhörten zu existieren, wurde in Magdeburg im Januar 1992 im ehemaligen Stasi-Knast mit dem Aufbau eines Dokumentationszentrums begonnen. Seitdem leistet das Zentrum unter Leitung von Ute Gramm auch überregional eine anerkannte politische Bildungsarbeit.

Bundesweit einzigartig ist seit nunmehr 20 Jahren die Forschungsarbeit zur Überwachung des Gesundheits- und Sozialwesens des Bezirkes Magdeburg durch die Stasi. Das Bürgerkomitee hat bisher 20 Bände herausgegeben, in denen mehrere hundert inoffizielle Mitarbeiter des MfS aus diesem Bereich aufgelistet sind. Darüber hinaus untersucht der Autor Ulrich Mielke den Einfluss des MfS und das Wirken von Stasi-Spitzeln im Rat des Bezirkes Magdeburg. Auch das ist einmalig.

Mit Aufmerksamkeit sehe das Bürgerkomitee, so dessen Vorsitzender Rainer Andratschke, den Vorschlägen entgegen, die von der gerade gegründeten Sonderkommission zum künftigen Umgang mit den Stasi-Akten unter Leitung von Sachsen-Anhalts ehemaligem Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer erwartet werden. "Auf keinen Fall sollten die Akten von der BStU-Behörde in das Bundesarchiv verlagert werden", sagt er, denn dann wären sie auf Jahre für den "Normalbürger" verschlossen.