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Richard Meyer aus dem Harzkreis saß im Eilzug 237, der 1960 in Leipzig verunglückte "Heftiger Knall, dann unheimliche Stille"

Von Bernd Kaufholz 02.02.2011, 04:33

Der Frontalzusammenstoß zweier Züge unweit des Leipziger Hauptbahnhofs vor 50 Jahren gehörte zu den schrecklichsten Reichsbahnunfällen nach dem Krieg. Richard Meyer aus dem Harzkreis gehört zu den Reisenden, die den Horror-Unfall, der mehr als 54 Todesopfer forderte, überlebt hat. Der damals 21-Jährige hat das schreckliche Ereignis bis heute nicht verarbeitet.

Halberstadt. 15. Mai 1960. Richard Meyer sitzt im 3. Abteil vom 1. Waggon des Eilzugs 237 Halberstadt-Bad Schandau. Er ist auf der Fahrt von Halberstadt, wo er bei seinen Eltern lebt, auf dem Weg zur Firma seines Onkels in Leipzig, wo er arbeitet. In Halle sind Freunde von ihm ausgestiegen, die dort studieren. Seitdem sitzt der Backofenbauer allein im Abteil.

Zwischen Halle und Leipzig fallen dem jungen Mann die Augen zu. Er schläft ein.

Was dann kurz vor 20.30 Uhr geschieht, dieses Puzzle kann er bis heute nicht vollständig zusammensetzen. "Ich bin von einem unwahrscheinlich heftigen Knall geweckt worden. Gleichzeitig ging ein riesiger Stoß durch den Wagen. Ringsherum war alles stockdunkel. Irgendwie roch es nach Phosphor." Und dann sei ihm die Stille aufgefallen. "Die absolute Stille, die für mich eine halbe Ewigkeit dauerte, obwohl es nur wenige Sekunden waren.

"Du musst zum Arzt, du siehst schlimm aus"

Um so mehr seien ihm dann die darauffolgenden markerschütternden Schreie der Menschen, das Stöhnen der Verletzten bewusst geworden.

Der Eilzug war wenige hundert Meter vor der Einfahrt in den Leipziger Sackbahnhof mit einem entgegenkommenden Personenzug zusammengestoßen.

Als der inzwischen 71-Jährige weiter erzählt, werden ihm die Augen feucht. Er muss innehalten ("Entschuldigung, aber bis heute ...").

Er wisse nicht, wie er sich aus dem zerschmetterten Waggon befreien konnte, wie er aus dem Wrack auf die Böschung neben dem Bahndamm gelangte. "Ein bisschen klarer wird die Sache für mich, als mich Sanitäter auf einer Trage über den Bahndamm zur wenige Meter entfernten Wollkämmerei trugen. "An Schmerzen kann ich mich nicht erinnern."

Irgendwie sei er dann zu seinem Onkel Richard gekommen, der nur 10, 15 Gehminuten vom Unfallort entfernt wohnte. "Aber wie? Filmriss!"

An eines erinnert sich der Rentner dann jedoch wieder klar: "Ich muss mich da irgendwie eigenartig aufgeführt haben. Jedenfalls hat mein Onkel gesagt: So geht das nicht mit dir. Du musst zum Arzt. Du siehst schlimm aus."

Und dass er damit genau richtig lag, zeigte kurz darauf die Diagnose im St.-Jakob-Krankenhaus: Zweifacher Schädelbasisbruch, schweres Schädelhirntrauma, erhebliche Verletzung des linken Auges.

Die damalige Freundin Meyers – inzwischen seit 50 Jahren mit ihm verheiratet – schildert die Situation im Krankenhaus: "Alles, was in der Klinik belegbar war, war auch belegt. Die Opfer lagen in einem großen Saal, auf den Gängen, auf Feldbetten ..." Es habe eine ganze Weile gedauert. bis sie Richard gefunden habe.

"Seitdem hat sich das Leben meines Mannes grundlegend verändert", sagt sie, und der 71-Jährige nickt. "In den folgenden zwei Jahren war ich beinahe ununterbrochen in Krankenhäusern." Doch eine seelische Betreuung wie heute üblich, das habe es nicht gegeben. "Und dabei ist sie so wichtig. Wenn nicht nur meine körperlichen Schäden behandelt worden wären, wenn ich auch psychisch betreut worden wäre, hätte ich mit dem Unfall sicherlich irgendwann mal abgeschlossen. Aber so ..."

"Die Reichsbahn hat sich intensiv um mich gekümmert"

Fahre er heute Bahn oder Bus und es werde ruckhaft gebremst, bekomme er Panik. Auch in engen, geschlossenen Räumen. Dann fühle er sich immer noch in den E 237 zurückversetzt.

Doch ebenso, wie er die fehlende seelische Zuwendung kritisiert, so lobt er die berufliche Hilfe, die ihm nach dem Zugunglück zuteil wurde. "Die Abteilung Recht des Reichsbahndirektionsbezirks Halle hat sich intensiv um mich gekümmert. Ganz gleich, ob mit dem Schmerzensgeld oder der Unterstützung im Beruf, er habe keine Probleme gehabt. "Allerdings kann ich nur für mich selbst sprechen. Ich habe gehört, dass es bei anderen Opfern ganz anders gelaufen ist."

Richard Meyer, der nicht mehr als Backofenbauer arbeiten – gar keine körperliche Tätigkeit mehr ausüben kann – wird der Weg zum Ingenieur-Ökonomie-Studium geebnet. Doch nach einem Jahr machen ihm die immer stärker werdenden psychischen Probleme dermaßen zu schaffen, dass er das Handtuch wirft.

Seine Frau erinnert sich: "Man hat mir damals gesagt, wie es um Richard steht und dass seine Probleme so schlimm werden könnten, dass er vielleicht auf Dauer oder für sehr lange Zeit in eine Nervenklinik müsse. Ich sollte mich entscheiden. Das sollte ich bei einer gemeinsamen Zukunftsplanung bedenken." Ein Trennung wäre ratsam.

Die damals 20-Jährige hielt zu ihrem Freund. Ihr ist es auch zu verdanken, dass Richard Meyer sein Studium wieder aufnahm und mit Diplom abschloss. "Man hatte mir zugesagt, dass ich innerhalb von zwei Jahren wieder einsteigen kann und in diesem Falle das erste Studienjahr nicht zu wiederholen brauche."

"Ich meine auch das Leid des Zugführers"

Richard Meyer, der heute in einem kleinen Ort bei Halberstadt lebt, fängt in dem Unternehmen an, das für seine angeschlagene Gesundheit verantwortlich ist – die Deutsche Reichsbahn. Er arbeitet in der Materialwirtschaft. Doch das Trauma holt den Schwerbeschädigten wieder und wieder ein. 1993, zwölf Jahre vor der Altersrente, muss er in den Ruhestand gehen.

"Natürlich hat das aktuelle Geschehen in Hordorf bei Oschersleben wieder all die schrecklichen Augenblicke vor 50 Jahren in mir wach werden lassen — noch mehr, als sie es sowieso ständig sind."

Er verfolge den Fall intensiv und ihn, als Opfer eines ähnlichen Unglücks, berühre das Leid zutiefst. "Es mag zwar eigenartig klingen, aber damit meine ich nicht nur das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen. Ich meine auch das Leid des Zugführers, der möglicherweise das Unglück verschuldet hat." Er frage sich immer wieder, wie der 40-Jährige in dem Wissen, so viel Leid angerichtet zu haben, den Rest seines Lebens verbringen könne.

Richard Meyer legt den Aktenordner auf den Stubentisch: Briefwechsel mit der Reichsbahndirektion, ärztliche Gutachten, Kopien der Schwerbeschädigtenausweise. Er ordnet die Papiere und klappt den Hefter zu. "Wenn es mit meinen Erinnerungen an den 15. Mai 1960 doch auch so einfach ginge ..."