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Am 15. August 2002 flutet die Mulde das riesige Tagebauloch Goitzsche und versetzt die Bitterfelder in Angst und Schrecken Was Jahre dauern sollte, geschah in zwei Tagen

Von Rochus Görgen und Petra Buch 15.08.2012, 03:18

Heute vor zehn Jahren, am 15. August 2002, bricht bei Bitterfeld der Damm des alten Kohletagebaus Goitzsche. Die Fluten der Mulde strömen in das riesige Loch. Zwei Tage später ist ein See entstanden, das Wasser bedroht die Stadt. Eigentlich sollte der Tagebau geplant und allmählich geflutet werden.

Bitterfeld-Wolfen l (dpa) Segelboote, Ferienhäuser, Sandstrände und ganz klares Wasser: An den Ufern der Seenlandschaft Goitzsche im Landkreis Anhalt-Bitterfeld erinnert heute nichts mehr an das Drama vom August 2002: Gigantische Wassermassen der Mulde drücken bei der Jahrhundertflut gegen die Dämme. Riesige Landstriche werden hier und andernorts in Sachsen-Anhalt überflutet.

Zehn Jahre nach der Katastrophe ist unter Anwohnern in einer nahe gelegenen alten Eigenheimsiedlung das mulmige Gefühl geblieben. Die Bilder, die damals um die Welt gehen, sind immer noch präsent. "Die Angst bleibt", bringt es ein Ehepaar in seinem heute wieder schön angelegten Häuschen und Garten nahe der Goitzsche auf den Punkt.

Als am 15. August die Flut die Region um Bitterfeld erreicht, brechen die Deiche. Unaufhaltsam fließen Millionen Kubikmeter Wasser in den früheren Braunkohletagebau Goitzsche vor den Toren der Stadt. Die eigentlich langsam geplante Flutung der riesigen Wanne ist binnen zweier Tage durch Naturgewalt erledigt. Der Wasserspiegel stieg jedoch sieben Meter höher als geplant - der See lief über, Teile Bitterfelds gingen unter. Das führte zu immensen Schäden: Allein in dieser Region werden 2500 Gebäude vom Hochwasser beschädigt, Tausende Menschen in Sicherheit gebracht.

Eine 60 Meter lange Bank erinnert an das Bitterfelder Weltwunder

Wenige Tage später erreicht der Scheitelpunkt der Flut Magdeburg. Am Elbe-Umflutkanal östlich der Stadt bricht ein Deich, ganze Dörfer müssen geräumt werden. Durch die Öffnung eines Wehrs wird ein Teil des Wassers östlich um die Landeshauptstadt herumgeleitet. Die Bundeswehr, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk sind im Einsatz, mit Steinen und Sandsäcken wird das Wasser bekämpft. Dann erreicht die Flutwelle Tangermünde im Norden des Landes und sorgt auch dort für Zerstörung an den Ufern.

In einzelnen Dörfern um die Lutherstadt Wittenberg haben Helfer teils große Schwierigkeiten, weil Menschen ihre Gehöfte und Tiere nicht alleinlassen wollen. Rettungsaktionen sind für die Feuerwehrleute und Helfer mitunter sogar lebensgefährlich.

Die Bilanz des Jahrhunderthochwassers: zwei Milliarden Euro Sachschaden, wie das Umweltministerium ermittelt. Und ein Umdenken setzt ein. Entsprechen damals nur 5 Prozent der Deiche im Land den Standards, die Deiche eigentlich erfüllen sollen, sind es heute knapp 50 Prozent. Und bis zum Jahr 2020 sollen es 100 Prozent sein. "Wir haben 2002 ein einschneidendes Erlebnis gehabt, das uns gezeigt hat, dass unsere Deichsysteme in Sachsen-Anhalt dringend ertüchtigt werden müssen", sagt Umweltminister Hermann Onko Aeikens (CDU).

Heute sind die Spuren der Jahrhundertflut landesweit beseitigt. Doch aus Sicht von Umweltschützern sind Behörden und auch Menschen nach wie vor im Irrglauben, so etwas könne sich nicht wiederholen, warnt etwa der Experte der Umweltschutzorganisation BUND, Ernst-Paul Dörfler. Der Klimawandel und zunehmende Wetterextreme - das sei ein globales Problem.

Nicht vergessen haben indes die Bitterfelder die Tausenden Helfer aus ganz Deutschland und ihnen schon 2003 ein Denkmal gesetzt. Eine 60 Meter lange Bank am Tagebausee Goitzsche erinnert bis heute an das "Bitterfelder Weltwunder". So hatten die von den Fluten bedrohten Menschen den dort errichteten gigantischen Deich aus Sandsäcken getauft.

Viele golden schimmernde Namensschilder erinnern mittlerweile auf der von einem Berliner Künstler geschaffenen Bank an die Helden von einst. "Hier, da bin ich, ich war dabei", sei immer wieder zu hören, wenn Helfer an den Ort des Geschehens zurückkehren, sagt eine Sprecherin der Stadt Bitterfeld-Wolfen.

Aber auch die Natur vergisst nichts. "Es ist ein Naturgesetz, dass sich der Fluss wieder die Flächen sucht, wo er mal zu Hause war, auch nach 100 Jahren ist das so", sagt der Umweltexperte Dörfler.

Seit der Jahrhundertflut 2002 ist in Deutschland nach Expertenmeinung eine Menge zum besseren Schutz der Bevölkerung vor Hochwasser getan worden - aber noch nicht genug. "Die Flüsse brauchen nach wie vor mehr Platz, um sich bei Hochwasser auf natürliche Art und Weise ausbreiten zu können. In dem Bereich ist zu wenig passiert", sagte der Gewässerschutzexperte beim Umweltbundesamt (UBA), Jörg Rechenberg. Konkret bedeute dies, Deiche zurückzuverlegen, um ehemalige Auen wieder mit dem Fluss zu verbinden und damit bei Hochwasser mehr Wasser in der Fläche zu halten.

Zudem sollte in überschwemmungsgefährdeten Gebieten industriell bewirtschaftetes Ackerland in Grünland umgewandelt werden. "Bei den Agrarflächen erleben wir derzeit eher das Gegenteil", sagte Rechenberg. So werde ein Großteil von Flächen in Deutschland für den Anbau von Getreidearten genutzt, um daraus Biokraftstoffe herzustellen. Wenn aber zum Beispiel bei Hochwasser auf einer großen Fläche hohe Rapspflanzen stehen, können die Wassermassen auf so einem Feld im Gegensatz zu einer Wiese nur sehr schwer abfließen und versiegen. Zudem haben Landwirte dann Ernteausfälle und finanzielle Verluste zu beklagen.

"Die Flüsse brauchen mehr Platz - wir haben zu viele Rapsäcker."

Unablässig sei darüber hinaus eine noch bessere europaweite Zusammenarbeit beim Hochwasserschutz, bei Vorhersagen und im Katastrophenfall, forderte der Experte. "Hochwasser macht auch vor Ländergrenzen nicht halt." Bestes Beispiel seien Grenzflüsse wie die Oder und Neiße. "Ganz wichtig ist es auch, das Siedlungsgeschehen an Flüssen nicht weiter ausufern zu lassen", sagte Rechenberg mit Blick auf Baugenehmigungen etwa für Wohngebiete. "Da haben wir seit der Hochwasserkatastrophe in Deutschland aber Fortschritte gemacht, so einfach geht das heute nicht mehr, einen Bebauungsplan in Wassernähe umzusetzen", sagte Rechenberg, der vor zehn Jahren die Flut bei seiner Arbeit im Umweltbundesamt miterlebte.

Als große nationale Aufgabe der Zukunft sieht der Experte den besseren Schutz der Auenwälder in Deutschland und Europa. "Die natürlichen Überschwemmungsgebiete halten das Wasser in der Fläche zurück. Ferner: Wenn sie nicht regelmäßig überflutet werden, dann sterben sie ab", warnte er. Dies habe dramatische Folgen für die Flora und Fauna und damit für die Umwelt. "Wir dürfen uns trotz der vielen Deichsanierungen und anderen Schutzmaßnahmen nicht der Illusion hingeben, so ein Hochwasser wie vor zehn Jahren wird uns in diesem Leben nicht mehr erreichen", sagte er. Dazu trage schon der Klimawandel mit der Gefahr von Wetterextremen bei.

"Und Wasser sucht sich immer seinen Weg", sagte Rechenberg. Mit so schweren Schäden wie vor zehn Jahren rechnet er angesichts der von Bund, Ländern, Kommunen und der EU eingeleiteten Schutzmaßnahmen bei einem vergleichbaren Hochwasser allerdings nicht. Aber: "Auch wenn man einen Deich noch so breit und hoch baut, irgendwann kann er extreme Wassermassen nicht mehr zurückhalten und diese überschwemmen dann das Hinterland."

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