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Bye, bye, Britain Was der britische Ausstieg aus Erasmus bedeutet

Sie saßen nebeneinander in Bibliotheken, durchtanzten gemeinsam so manche Nacht, lernten die Sprache der anderen und wurden nicht selten Freunde fürs Leben: Jahr für Jahr gingen Zehntausende europäische Studierende nach Großbritannien und umgekehrt - bis jetzt.

Von Larissa Schwedes, dpa 08.01.2021, 10:14
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- Isabella Jewell

London (dpa) - Eigentlich hätte er gar keine großen Erwartungen an Erasmus gehabt, erzählt Max Hogrebe, 29, aus Münster. Vor fünf Jahren entschied sich der Medizin-Student, ein Erasmus-Semester in Wales zu verbringen. "Ich bin angefixt worden, das war eine enorm wichtige Zeit für mich", sagt er heute.

"Ich würde fast sagen, dass das jeder gemacht haben muss." Auch die Britin Isabella Jewell, die noch vor wenigen Monaten in Frankreich und Italien studierte, gerät ins Schwärmen, wenn sie an ihre Erasmus-Zeit denkt. "Das war so eine großartige Möglichkeit", sagt die 21-Jährige, die normalerweise in Manchester Französisch und Italienisch studiert. So gut wie im Land selbst hätte sie die Sprachen niemals an der Uni lernen können.

Erasmus in UK war einmal

Erfahrungen, wie sie dank des Austauschprogramms der Europäischen Union, das mittlerweile Erasmus+ heißt und weit über den reinen Uni-Austausch hinausgeht, jedes Jahr Hunderttausende machen. Auch Zehntausende Briten, die in EU-Ländern studieren - und noch mehr junge Europäerinnen und Europäer, für die Großbritannien traditionell zu den Lieblingsunis gehörte - den berühmten, altehrwürdigen Unis, aber auch der beliebten britischen Kultur sei Dank.

Das war einmal. Mit dem Brexit ist Schluss. Zwar gibt es noch eine Übergangsphase, aber klar ist: Großbritannien ist raus aus dem Erasmus-Programm. Noch vor rund einem Jahr hatte Premierminister Boris Johnson angekündigt, Erasmus werde nach dem Brexit auf jeden Fall erhalten bleiben - doch es ist bei weitem nicht die erste Kehrtwende des Regierungschefs. "Hunderte Millionen Euro" hätte es Großbritannien nach dem Brexit gekostet, Teil des Programms zu bleiben - so der Kommentar eines hochrangigen Mitglieds der Brexit-Verhandlungen.

Im Ausland studieren soll die künftige britische Generation trotzdem noch dürfen. Das "Turing-Programm" soll Erasmus ersetzen, benannt nach dem legendären britischen Entschlüssler des Enigma-Codes, Alan Turing, der den Briten im Zweiten Weltkrieg das Mitlesen verschlüsselter Funk-Codes ermöglichte. Der entscheidende Unterschied des neuen Programms: Turing funktioniert nur in die eine Richtung.

Wenn ein Studienprogramm zum Politikum wird

"Studenten werden die Möglichkeit haben, nicht nur an europäischen Universitäten zu studieren, sondern an den besten in der ganzen Welt", kündigte Johnson an. Rund 100 Millionen Pfund (rund 110 Mio Euro) sollen im ersten Jahr in das Programm fließen. Britische Studierende können eine Förderung beantragen - für solche aus der EU gibt es keinen Penny. "Es ist damit kein gleichwertiger Ersatz", sagt der Geograf David Simon von der Royal Holloway University of London. "Der gegenseitige Austausch bei Erasmus war ein Ausdruck des europäischen Spirits." Insofern sei es wenig verwunderlich, dass die Regierung sich für eine einseitigere Variante entschieden habe.

"Ich vermute, dass eine ideologische Vermutung dahinter steckt, dass Erasmus sehr pro-europäische junge Menschen hervorbringt, was sicherlich auch stimmt", mutmaßt der Politikprofessor James Sloam von der Royal Holloway University of London. Eine Haltung, die Großbritannien zwar auch künftig nützen könnte, aber möglicherweise nach Ansicht konservativer Brexiteers in der Regierung nicht unbedingt zum frischgebackenen Brexit-Land passt. "Es wird eine beträchtliche Phase der Unsicherheit geben und verlorene Möglichkeiten für eine ganze Generation von Studenten", hält der Historiker Richard Toye von der Universität Exeter fest. Das neue Programm klinge für ihn zunächst, als sei es auf der Rückseite eines Briefumschlags entworfen worden.

Fremdsprachen-Studentin Isabella Jewell vermutet außerdem, dass es einen größeren Wettstreit um die begrenzten Plätze des Programms geben wird und dass insbesondere benachteiligte Bewerber das Nachsehen haben könnten. "Es wird die zurücklassen, die es besonders verdient haben", vermutet die 21-Jährige. "Es zeigt einfach, dass unsere Regierung überhaupt nicht über Studenten nachdenkt." Insbesondere für junge Menschen wie sie, die fremde Sprachen studieren, sei es dringend nötig, im Ausland zu leben und die Sprachen auch im Alltagsleben anzuwenden. "Es gibt ohnehin schon ein großes Problem mit Sprachlehrern in Großbritannien", meint sie.

Wenigstens Schottland könnte den Europäern bleiben

Die Zahl der Teilnehmer aus Europa, die nach Großbritannien zum Studieren kamen, lag schon immer deutlich höher als umgekehrt: 2019 gingen gut 18.000 Briten zum Studieren oder für Praktika mit Erasmus+ ins EU-Ausland, während mehr als 30.000 nach Großbritannien kamen.

Wie so oft sieht man im Norden des Vereinigten Königreichs die Dinge ein wenig anders als im Londoner Regierungsviertel: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete den britischen Ausstieg aus Erasmus als "kulturellen Vandalismus". Wenn es nach ihr ginge, sei Schottland schnell wieder dabei im Erasmus-Programm. Und auch deutsche Universitäten hoffen, dass mit dem europafreundlichen Landesteil schneller wieder ein enger Austausch stattfinden könnte als mit dem Rest des Königreichs.

Max Hogrebe, der sich selbst als "UK-affin" bezeichnet, bedauert den Ausstieg Großbritanniens. Erasmus-Erfahrungen könne man als europäischer Student zum Glück auch weiterhin machen, nur eben woanders, meint er. "Ein großer Anteil von dem, was Erasmus ausmacht, bleibt für andere Staaten erhalten." Britische Studierende können das nicht behaupten - für sie fallen direkt 27 Erasmus-Ziele weg. Es bleibt das Hoffen auf Turing.

© dpa-infocom, dpa:210108-99-942030/3