1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Deutschland
  6. >
  7. Ein Denkmal für die Helden vom 17. Juni

Buch des Historikers Breitenborn über Ereignisse 1953 im Harz / Morgen Präsentation in Berlin Ein Denkmal für die Helden vom 17. Juni

11.06.2013, 01:26

Den Ereignissen vom 17. Juni 1953 fehlen nach Meinung von Prof. Dr. Konrad Breitenborn die Gesichter. Wer waren die Frauen und Männer, die für Freiheit und Demokratie ihr Leben riskierten? Für den Kreis Wernigerode hat der Historiker erstmals die Namen von 90 Beteiligten ermittelt und ihnen in einem Buch ein Denkmal gesetzt. Wolfgang Schulz sprach mit ihm darüber.

Volksstimme: Herr Professor Breitenborn, seit mehr als zehn Jahren beschäftigen Sie sich mit dem 17. Juni 1953 im Kreis Wernigerode. Sind die Ereignisse im Harzkreis von besonderer Bedeutung?

Professor Konrad Breitenborn: Die Aufarbeitung dieses Ereignisses ist im Hinblick auf die regionale Geschichtsforschung nicht nur im Harzkreis noch immer völlig unzureichend. Für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus stehen konkrete Namen, wie beispielsweise Claus Graf Schenk von Stauffenberg und die Geschwister Scholl.

Die Volkserhebung vom Juni 1953, bei der Hunderttausende nicht nur niedrigere Arbeitsnormen, sondern meist an erster Stelle den Rücktritt der Regierung der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands forderten, hat dagegen bis heute kein Gesicht. In der kollektiven Erinnerung ist sie in der Regel - wenn überhaupt - nur als ein mehr oder weniger marginales historisches Ereignis präsent.

Volksstimme: Wie kann dem Volksaufstand ein Gesicht gegeben werden?

Breitenborn: Im Kreis Wernigerode streikten im Juni 1953 insgesamt 7000 Beschäftigte in mehr als 20 Betrieben. In einer polizeiinternen "Analyse über den faschistischen Putsch" im Bezirk Magdeburg hieß es wenig später, dass die Städte Halberstadt, Wernigerode und Staßfurt neben der Bezirkshauptstadt "die Schwerpunkte des faschistischen Putschversuches", wie die SED die Volkserhebung titulierte, gebildet hätten. Neben der Rekons- truktion des zeitlichen Ablaufs der Ereignisse war es für mich wichtig, die Frage zu beantworten, welche Personen den Volksaufstand im Kreis Wernigerode trugen und inspirierten und wie ihr weiteres Schicksal verlief.

Wer waren sie? Leider musste ich konstatieren, dass vor allem die Namen der beteiligten Akteure meist nicht in Erinnerung geblieben sind, zumal sie in DDR-Zeiten ohnehin als potenzielle Staatsfeinde galten.

Die Versammlung war das zentrale Ereignis

Volksstimme: Im Juni erscheint Ihr Buch über den 17. Juni im Kreis Wernigerode. Gibt es Aufschluss über die Personen, die maßgeblich beteiligt waren?

Breitenborn: Mir ist es durch das Studium von Akten der Wernigeröder SED-Kreisleitung, von Stasi-Akten und in zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen gelungen, mehr als 90 Namen von Streikführern und anderen Beteiligten ausfindig zu machen. Eine Fundgrube war dabei der Tonbandmitschnitt einer Belegschaftsversammlung des Elektromotorenwerkes (2500 Beschäftigte) am 18. Juni im Karl-Marx-Haus.

Die Versammlung war das zentrale Ereignis des Volksaufstandes in Wernigerode. Das Tonbanddokument spiegelt eindrucksvoll und sehr authentisch die damalige Atmosphäre wider.

Volksstimme: Zum 50. Jahrestag des 17. Juni im Jahre 2003 war dieser Tonbandmitschnitt bereits bekannt, aber wer die Aufzeichnung veranlasst hat und wer in der Versammlung gesprochen hat, das lag im Dunkeln. Was haben Sie herausgefunden?

Breitenborn: Die Tonbandaufzeichnung war am 18. Juni morgens um 7.30 Uhr mit Beginn der Versammlung von Albert Bartneck, dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung, veranlasst worden. Neben dieser Tatsache habe ich durch das Studium von Akten und in zahllosen Gesprächen mit Zeitzeugen die Namen von etwa zehn Diskussionsrednern herausgefunden.

Im Elektromotorenwerk war die Initiative zum Streik von der Wickelei ausgegangen. Meister Karl Wernicke (1908-2000) galt als führender Kopf der Aktion. Von der Versammlung wurde eine Delegation bestimmt, die die Forderungen der Arbeiter weitergeben sollte. Dazu gehörten neben Wernicke der Wickler Heinz Jäschke (1925-1981) aus Wernigerode, der Briga- dier in der Schleuderei Martin Buth (1927-1982) aus Ströbeck und die Sachbearbeiterin Ursula Sophie Herynk (1921-2005) aus Derenburg. Der Wickler Gerhard Templin (1921-1969) verlas schließlich, mehrfach von tosendem Applaus unterbrochen, drei auf einem Zettel handschriftlich notierte Forderungen der Elmo-Werker.

Volksstimme: Wie lauteten die Forderungen?

Breitenborn: Als erstes nannte Templin die Forderung nach freien und geheimen Wahlen in ganz Deutschland, dann die Aufhebung der Zonengrenzen und Abschluss eines Friedensvertrages mit ganz Deutschland, und schließlich sagte er: Sollten Kollegen verhaftet oder Repressalien ausgesetzt werden, ruht die Arbeit solange, bis die Kollegen wieder in Freiheit sind. Des Weiteren wurden auf der Versammlung die Freilassung aller in der Sowjetunion inhaftierten deutschen Kriegsgefangener und die Senkung der HO-Preise um 40 Prozent gefordert.

Volksstimme: Was ist daraus geworden?

Breitenborn: Die SED-Kreisleitung - so gab Karl Wernicke bei einem späteren Verhör durch den Staatssicherheitsdienst an - lehnte die formulierten Punkte ab und machte Vorschläge, wie man sie ändern könnte, um sie dann der Regierung vorzulegen. Diese neu formulierten Forderungen fanden jedoch nicht die Zustimmung der Belegschaft. Der Streik ging deshalb bis zum Nachmittag weiter. Eine neunköpfige Streikleitung bestätigte die ursprünglichen Forderungen und schickte sie per Fernschreiben nach Berlin.

In anderen Betrieben des Kreises erklärten sich die Beschäftigten solidarisch mit den Arbeitern des Elmo-Werkes. Auch dafür habe ich zahlreiche Namen von Streikenden und deren Schicksal erforscht. Insgesamt wurden im Kreis Wernigerode 44 Personen im Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand festgenommen, die erstaunlicherweise alle Ende Juni/Anfang Juli wieder auf freiem Fuß waren. Wernicke beispielsweise wurde am 8. Juli "ohne Papier" entlassen und flüchtete am 16. August 1953 nach Westberlin.

Ein Beitrag zur notwendigen Aufarbeitung

Volksstimme: Mit der Erforschung der Namen der Beteiligten am Volksaufstand und ihrer Geschichte haben Sie dem 17. Juni in Wernigerode ein Gesicht gegeben. Was leiten Sie daraus ab?

Breitenborn: Mit meinem Buch "Tage zwischen Hoffnung und Angst. Der 17. Juni im Kreis Wernigerode" möchte ich der nachwachsenden Generation vor dem Hintergrund von Diktaturgeschichte die Werte einer demokratischen Gesellschaftsform auf rechtsstaatlicher und demokratischer Grundlage verdeutlichen.

Mit der Publikation soll anhand eines ausgewählten regionalen Bereichs ein exemplarischer Beitrag zur notwendigen Aufarbeitung und zur öffentlichen Diskussion dieses Themas geleistet werden.