Riesiger Ansturm auf Fachtagung zu "geschlechterreflektierter Frühförderung" in Magdeburg Ein Indianer kennt keinen Schmerz? Erzieher suchen neue Wege für Umgang mit Jungs
Bennett verhält sich in den Pausen sehr laut, tobt und schreit viel", schreibt eine Grundschullehrerin der Mutter des Jungen in die Zeugnisbeurteilung. "Na klar, wenn nicht in den Pausen, wann denn dann?", fragt die Sachsen-Anhalterin, selbst Erzieherin mit Berufserfahrungen in Hort und Kindergarten.
"Iiih, guck mal, du heulst ja schon wieder, du bist ja ein Mädchen!", macht sich eine Mutter über ihren Sohn lustig, nachdem der sich mit seiner Schwester gestritten hatte. Prompt hört der Junge auf zu weinen.
Eine Kita-Erzieherin zieht vor versammelter Gruppe über einen Jungen her, der sich beim gemeinsamen Sauna-Besuch als Einziger nicht ausziehen wollte. Nur drei Beispiele aus der Lebenswelt kleiner Jungen, doch für Professorin Annette Hartung von der Fachhochschule für Gesundheit im thüringischen Gera sind sie typisch für die Rollenkonflikte, denen Jungs im Kita- und Grundschulalter begegnen.
Längst belegen Studien: Jungen benötigen öfter Frühförderung, versagen häufiger in der Schule, leiden öfter unter Autismus oder Aufmerksamkeitsdefizitssyndrom, begehen öfter Straftaten, sind gesundheitlich anfälliger, ihre Mütter erleben kompliziertere Schwangerschaften. Als "Bildungsverlierer" stehen Jungen seit den PISA-Studien da, kommen im Job aber häufiger in Spitzenpositionen. Sie haben eine andere Hirnstruktur, sind anders sozialisiert und äußern andere Bedürfnisse - und damit stellen sie für Eltern und das (meist weibliche) Fachpersonal in Kitas und Schulen eine Herausforderung dar.
"Es gibt zwischen Jungen und Mädchen einen geringen Unterschied in den genetischen Anlagen. Entscheidender ist aber der Einfluss des Hormons Testosteron schon vor der Geburt", erklärt Annette Hartung. Und genauso entscheidend sei: Das Gehirn entwickele sich so, wie es benutzt wird. Eltern sollten deshalb nicht eigene Hobbys und Interessen mit Gewalt auf ihre Kinder übertragen, sondern Entdeckertum zulassen. Auch in Intelligenztests würden Mädchen und Jungen fast gleich abschneiden, allerdings mit unterschiedlichen Neigungen, so Hartung. Ist das Verhalten von Erbanlagen oder Umwelt geprägt? Darüber diskutieren Experten beständig. Fest stehe: "Jungen haben einerseits ein enormes Bedürfnis nach körperlicher Aktivität und lustvoller Erforschung alles Neuen - bis an die Grenzen und darüber hinaus", erklärt die Wissenschaftlerin, die selbst zehn Jahre in der Frühförderung arbeitete. Gleichzeitig verlangten Jungen noch mehr als Mädchen nach bedingungsloser Nähe und Stabilität bei ihren Bezugspersonen. "Sie sollten beide Bedürfnisse befriedigen können", sagt Annette Hartung. Ein Indianer kennt keinen Schmerz - oder? Die Jungen sind mit einem beweglichen Männerbild konfrontiert: Sie sollen stark und dominant sein, Leistung bringen und erfolgreich sein. Auf der anderen Seite verlangt man von ihnen Diskussionsbereitschaft, Kompromissfähigkeit, Ruhe, Konzentration und Einfühlsamkeit. In Krippe und Kindergarten werde das typisch jungenhafte Verhalten aber durch weibliche Pädagogen eher sanktioniert, männliche Vorbilder fehlen. "Ich mache aber keiner Erzieherin einen Vorwurf", betont Annette Hartung. Immer mehr wüssten um das Problem, aber was tun?
Das Fachpersonal muss sich fundiertes Wissen über die Geschlechterunterschiede aneignen und es umsetzen wollen, so Hartung. Wichtig: Erzieher sollten mit der eigenen Rollenidentität vertraut sein und sich fragen, wie sie auf aggressive, weinende, wilde oder nicht jungenhafte Jungs reagieren - und woher diese Reaktionen kommen. "Jungen brauchen reale Abenteuer, eine Art ¿Action Mode", fordert Annette Hartung. Fernseher oder Spielkonsole reichten nicht aus, Toben ist angesagt.
Erzieherinnen, die das wissen, gehen auch bei schlechtem Wetter mit den Kindern raus. Natürlich könnten sie männliches Kita-Personal nicht ersetzen, wohl aber auf Impulse der Kinder achten und nicht vorgefertigte Rollenmuster durchsetzen. "Überdenken Sie den Verhaltenskodex, zu Hause wie in der Kita", forderte Hartung. Das sei ein langer Prozess, aber die ersten Schritte in die richtige Richtung sind getan.
Im Rahmen der Fachtagung ist das Buch "Kleine Jungen ganz groß" mit Studien und Handlungshinweisen erschienen, mehr Infos unter www.geschlechtergerechteJugendhilfe.de oder (0391) 6 31 05 56.