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Analyse Fassungslosigkeit über MP-Wahl: "Es wird einen Sturm geben"

Die Thüringer Ministerpräsidentenwahl hat nicht nur bundesweit die Politik erschüttert - die Vorgänge im Landtag lassen auch viele Menschen auf den Straßen fassungslos zurück. Es werden Parallelen zum Aufstieg der Nationalsozialisten vor 90 Jahren gezogen. Gar vom "Betrug am Wähler" ist die Rede.

Von Andreas Hummel, dpa 06.02.2020, 14:11

Erfurt (dpa) - Mit Ach und Krach kam Thomas Kemmerichs FDP in den Landtag, dann ließ sich der Fünf-Prozent-Mann mit den AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen. Die Vorgänge in Thüringen haben nicht nur die Politik bis nach Berlin erschüttert, sondern viele Menschen fassungslos zurückgelassen.

Und das nicht nur auf den Straßen Thüringens. "Es wird einen Sturm geben", prophezeite der Jenaer Soziologe Klaus Dörre am Morgen nach der Wahl. Wenige Stunden später hat der Sturm der Entrüstung den FDP-Mann nun schon wieder aus dem Amt gefegt. Kemmerich kündigte an, sein gerade erst erworbenes Amt wieder zur Verfügung zu stellen.

Das Entsetzen über die AfD-Wahlhilfe und darüber, wie der Linke Bodo Ramelow als beliebtester Politiker Thüringens aus der Staatskanzlei weichen musste, hatte über den Freistaat hinaus in vielen Städten Menschen auf die Straße getrieben. Seite an Seite demonstrierten sie, sprachen von "Betrug am Wähler".

Dörre verwies nicht nur auf diese Demos. Auch eine Online-Petition, die den Rücktritt Kemmerichs forderte, hatte bis zum frühen Donnerstagnachmittag schon mehr als 175.000 Unterstützer. Er glaube, dass die Abläufe im Landtag zu einem Politisierungsschub im Land führten, sagte der Soziologe. "Es gibt eine enorme Entrüstung in der Republik, die weit hinein ins Lager der Christdemokraten und der FDP reicht."

Nicht nur für politische Beobachter, auch für viele Bürger blieben große Fragezeichen. Wie konnte sich der Liberale und Katholik Kemmerich ausgerechnet von Björn Höckes AfD ins Amt hieven lassen? Und wie können CDU, FDP und AfD einen Mann zum Landesvater für 2,1 Millionen Thüringer wählen, der nur mäßig bekannt ist? Bei der Erfurter Oberbürgermeisterwahl hatte er 2012 gerade einmal 2,6 Prozent der Wähler für sich gewinnen können.

Die Wahl am Mittwoch im Landtag zeigte, dass es im politischen Thüringen auf jede Stimme ankommt. Die Ironie dabei: Hatte Rot-Rot-Grün in der vergangenen Legislaturperiode mit der Mehrheit von gerade einmal einer Stimme regiert, war es nun genau eine Stimme die im dritten Wahlgang den Ausschlag für Kemmerich gab. Und die AfD jubilierte, feierte sich als "Königsmacher".

Viele Thüringer Wähler fühlten sich derweil betrogen. "Wer hat uns verraten? Die freien Demokraten" schrieben sie etwa auf ihre Plakate und gingen spontan schon am Mittwoch in Erfurt, Weimar und Jena auf die Straße. "Wenn das ernst gemeint ist, gehe ich nie wieder wählen", sagte eine 52-Jährige. "Das ist ein Elend", meinte eine andere. Vereinzelt gab es auch andere Stimmen: "Super. Der Kemmerich ist Wessi, Geschäftsmann - der kann was."

Dabei war Thüringen bisher nicht als Demonstrationshochburg bekannt. Doch die Wahl im Landtag trieb selbst Jenaer Professoren auf die Straße wie Unipräsident Walter Rosenthal. "Ich habe mit dem Zustandekommen des Wahlergebnisses große Probleme", sagte er der Deutschen Presse-Agentur - als Privatperson, wie er betonte. "Thomas Kemmerich hätte die Wahl nicht annehmen dürfen. Viele Menschen sind sauer und empfinden das auch angesichts der hohen Beliebtheitswerte von Bodo Ramelow als Verfälschung des Wählerwillens."

Etliche Demonstranten zogen Vergleiche zu den 1920er und 30er Jahre und mahnten: "Wehret den Anfängen!" Ramelow selbst zog auf Facebook die Parallele. Er postete ein Foto auf dem sich Adolf Hitler und der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg die Hand reichen - darunter das Foto vom Mittwoch wie AfD-Landeschef Björn Höcke Kemmerich zur Wahl gratuliert. "Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei.[...] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen", ist darunter Hitler von 1930 zitiert.

Wiederholt sich in Thüringen die Geschichte? Die Berliner Republik ist nicht die Weimarer Republik, betonte der Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, Matthias Quent. "Die Naivität, mit der die selbst ernannten bürgerlichen Parteien hier in Thüringen agiert haben, erinnert aber erschreckend an die 1920er Jahre."

Das zeige sich auch in den Gewaltfantasien gegen ehemalige Mitglieder der Landesregierung, denen sich Rechtsradikale derzeit in geschlossenen Foren im Internet hingäben, so der Extremismusforscher. "Die rechtsextreme Szene ist derzeit völlig berauscht. Sie sind der große Gewinner der Wahl am Mittwoch."

Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft