Ukraine-Krieg „Wie viel Land will die Ukraine opfern?“
Mit spektakulären Äußerungen zum Ukraine-Krieg überrascht Nato-Chef Jens Stoltenberg vor dem Gipfel des Militärbündnisses, der gestern Abend in Brüssel begann. Die Ukraine müsse entscheiden, wie viel Territorium sie für den Frieden tauschen will, so Stoltenberg.

Naantali - Von Uwe Kreißig (mit blick.ch und mdr.de)
Über die zunächst wenig beachteten Äußerungen des Nato-Chefs berichtete das Portal „blick.ch“ des Schweizer Medienunternehmens Ringier. Stoltenberg ergänzte, dass der Krieg in der Ukraine nur am Verhandlungstisch beendet werden könne. Jedes Friedensabkommen fordere auch Kompromisse, auch in Bezug auf Territorium, so der Nato-Chef am Sonntag auf den jährlichen „Kultaranta-Gesprächen“ in Finnland.
Der Westen sei bereit, für die Stärkung des ukrainischen Militärs „einen Preis zu zahlen“, sagte er weiter. „Aber Kiew werde Moskau einige territoriale Zugeständnisse machen müssen, um den Konflikt zu beenden“, so „Blick online“.
Frieden habe immer seinen Preis. „Frieden ist möglich. Die Frage ist nur: Welchen Preis sind (die Ukrainer) bereit, für den Frieden zu zahlen? Wie viel Territorium, wie viel Unabhängigkeit, wie viel Souveränität sind sie bereit, für den Frieden zu opfern?“, so der Nato-Chef in seiner ungewohnt offenen Einschätzung der aktuellen Lage im Ukraine-Krieg.
Stoltenberg habe aber keine konkreten Vorschläge der Nato vorgelegt, wie man den Konflikt beenden könne. Es sei „Sache derjenigen, die den höchsten Preis zahlen, diese Entscheidung zu treffen“. Die Nato und der Westen würden den Ukrainern weiterhin Waffen liefern, um „ihre Hand zu stärken“, wenn „schließlich eine Lösung ausgehandelt werde“, so das Schweizer Newsportal.
„Finnland konnte durch den Verlust Kareliens als Land überleben“
In seinem Diskussionsbeitrag habe Stoltenberg auch das Beispiel Finnland genannt. Dieses hatte –, unter großen innenpolitischen Diskussionen, die im Grunde bis heute präsent sind – den Landesteil Karelien in einem Friedensabkommen 1947 mit der Sowjetunion endgültig abgetreten. Stoltenberg bezeichnete die finnisch-sowjetische Vereinbarung als „einen der Gründe, warum Finnland aus dem Zweiten Weltkrieg als unabhängige, souveräne Nation hervorgehen konnte“. Er spielte damit auf die Realität an, dass das Land nach 1944 keine Chance gehabt hätte, einer sowjetischen Besetzung zu entgehen, wenn Stalin dies angeordnet hätte. Vermutlich hätte auch die Allierten USA und Großbritannien zu dieser Zeit eine Besetzung Finnlands durch die Sowjetunion akzeptiert.
Stalin gab sich 1947 im Friedensvertrag mit Finnland zwar mit Karelien zufrieden, erzwang aber die Neutralität Finnlands und enge wirtschaftliche Bindungen. „Im Folgejahr drückt Josef Stalin durch, dass Finnland und die osteuropäischen Staaten einen ,Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand’ abschließen“, so der Historiker Hartmut Schade auf „MDR online“. Dieser Vertrag war mehrfach erneuert worden, zuletzt 1983. „Zum östlichen Nachbarn, der Großmacht Sowjetunion, mussten gute Bedingungen hergestellt werden. Das überlieferte Misstrauen musste zerstreut und an seiner Stelle Vertrauen geschaffen werden“, kommentierte der finnische Präsident Mauno Koivisto am 14. Oktober 1984 diese politische Realität, zitiert Schade.
Für Finnland brachte diese Phase als Mittler zwischen Ost und West durchaus wirtschaftliche und politische Vorteile. Auch eine militärische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gab es. So nutzte die finnische Luftwaffe über lange Zeit sowjetische Kampfflugzeuge der Typen Mig-15, Mig-21 und Il-28. Die finnischen Mig-21-Abfangjäger flogen sogar bis 1998.
Durch den Ukraine-Krieg ist die finnische Regierung allerdings von den Positionen aus der Zeit des Kalten Krieges abgerückt und bevorzugt den schnellen Eintritt in die Nato.
Stoltenbergs Äußerungen fallen nun in eine Phase, in der in Westeuropa eine „Kriegsmüdigkeit“ zu erkennen ist. Dies hatten zuvor die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wie auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beklagt.