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Reaktorkatastrophe Eine Reise nach Tschernobyl

30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist die Region immer noch Sperrgebiet. Eine Reise in die verstrahlte Zone.

Von Annette Schneider-Solis 24.04.2016, 05:00

Kiew l Das Abenteuer beginnt in Kiew. Im Kleinbus ukrainischer Freunde fahren wir in Richtung Tschernobyl. Eine 30-Kilometer-Zone um den Unglücksreaktor ist bis heute Sperrgebiet. Bevor sich der Schlagbaum öffnet, werden unsere Genehmigungen gründlich geprüft. Nach einer knappen halben Stunde durch den Wald erscheint das Ortseingangsschild von Tschernobyl. Das erste Aha: im Ukrainischen heißt der Ort Tschornobyl. Ein Ort mit jahrhundertealter Tradition, sehr bekannt in der Ukraine, erzählt Gästeführer Jewgen Gonscharenko. Unter dem russischen Namen Tschernobyl kennt man den Ort heute auf der ganzen Welt.

Tschornobyl ist ein Geisterort: Verlassene Häuser, aus deren Fenstern Bäume wachsen, windschiefe Holzwände zwischen wuchernden Büschen. Ganz verlassen ist Tschornobyl nicht. Hier gibt es eine Kommandantur, hier wohnen Arbeiter, die am Reaktor arbeiten und am neuen Sarkophag. Immer nur für kurze Zeit, damit die Strahlenbelastung nicht zu groß wird. Auch Jew­gen hat einen Geigerzähler dabei.

Hier leben auch Siedler, einige wenige. Valentina und Alexander Kowalenko, Mutter und Sohn, sind zwei von ungefähr 400 Rückkehrern. Ihr bescheidenes Häuschen steht am Rand der einstigen 15   000-Einwohner-Stadt. Der Hund bellt, als wir das Grundstück betreten. Natürlich beantworten sie gern Fragen, empfängt uns Valentina, die hoch in den 70ern ist. Sie seien zurückgekehrt, erzählt sie in einem Mix aus Russisch und Ukrainisch. Noch 1986. In Kiew, da habe sie es nicht ausgehalten. Und hier gebe es ja alles – ein Magazin und sogar eine Post.

„Das meiste bauen wir selber an“, erklärt Alexander, der noch eine Wohnung in Kiew hat. Gefahren? „Einmal ist ein Elch bis ans Haus gekommen“, erzählt er. „Aber wenn man friedlich ist, tun sie einem nichts.“ Die Tierwelt rund um Tschornobyl ist reich an Arten, die es sonst kaum noch gibt: Luchse, Bären, Wölfe und Przewalskipferde leben hier, ungestört vom Menschen.

Ob sie Angst hätten vor gesundheitlichen Gefahren, präzisiere ich meine Frage. Alexander winkt ab. Und Valentina versichert, sie hätte keine gesundheitlichen Probleme. „Uns geht es gut, bis auf das, was man im Alter so hat. Der Zucker…“, erklärt sie.

Am meisten macht der ehemaligen Kulturhausdirektorin die Einsamkeit zu schaffen. „Wir bekommen fast nie Besuch“, erzählt sie und wischt eine Träne aus dem Auge.

Wir möchten wissen, wie sie die Katastrophe vor 30 Jahren, am 26. April 1986,  erlebt haben. Alexander wird zornig. „Wir haben gewusst, dass etwas nicht stimmte“, berichtet er. „Wir haben doch die weiße Wolke über dem Kraftwerk gesehen. Aber sie haben behauptet, da sei nichts!“ Während die Auslandsmedien schon über eine Reaktorkatastrophe berichteten, wurde in Tschornobyl und Pripjat die Bevölkerung beschwichtigt. „Das war typisch Sowjetunion. Zwei Tage später mussten wir weg, und da musste alles ganz schnell gehen.“

Als wir wenig später den Hof verlassen, schauen uns Valentina und Alexander nach, bis die wacklige Hoftür ins Schloss fällt.

Jewgen dirigiert den Bus auf einen asphaltierten Platz. Hinter einem Zaun stehen Fahrzeuge. Ein Ural, ein Schützenpanzerwagen, Bagger im Miniformat. „Diese Fahrzeuge“, zeigt Jewgen, „waren nach der Katastrophe am Reaktor eingesetzt. Manche denken, es sind Modelle. Aber sie sind so klein, weil sie in Zwischenräume mussten und aufs Dach, das einzustürzen drohte.“ Aufgeregt piepst der Geigerzähler in Jewgens Hand.

Näher als Tschornobyl liegt Pripjat am Katastrophenreaktor, nur drei Kilometer entfernt. Das Satellitenstädtchen besteht fast nur aus verfallenden Plattenbauten. Auf der einstigen Hauptstraße wuchern Büsche und Bäume. Man muss genau hinschauen, um die Straße zu erkennen. Pripjat wurde 1970 gegründet, als Wohnort für die Arbeiter im Kernkraftwerk. Hier lebten fast 50  000 Menschen, vor allem junge Familien, viele Kinder. Sie alle mussten Hals über Kopf ihre Wohnungen verlassen. Davon zeugen staubige Sofas, verwaiste Schränke, steckengebliebene Aufzüge. In einer alten Schule bedeckt eine dicke Staubschicht Stühle und Bänke. Auf Tischen liegen aufgeschlagene Bücher und Hefte. Auf einer abgefallenen Wandzeitung lässt sich noch das Wort Lenin entziffern, in einem Schulbuch lässt man die Gemeinschaft der Sowjetrepubliken hochleben. Hier dauert die Sowjetunion fort, gefangen in einer radioaktiven Wolke.

Die Kinder, die diese Schulbänke gedrückt haben, wurden von einer Minute auf die andere auseinandergerissen. Einige Familien zogen nach Kiew, andere zu Verwandten irgendwo im Land. Die Hoffnung auf Rückkehr mussten sie aufgeben. In Pripjat wohnt niemand mehr. Nur drei Firmen arbeiten dort noch: eine Autowaschanlage, eine Wäscherei und ein Pumpkraftwerk.

Hinter den Hochhäusern Pripjats liegt der Vergnügungspark. Er war fast fertig, als das Unglück passierte, wurde nie eröffnet. Das viel fotografierte Riesenrad ragt in den grauen Himmel. Büsche brechen durch Asphalt – die Natur holt sich diesen Ort zurück, nachdem der Mensch ihn verlassen hat.

Größer als in Pripjat ist die Strahlenbelastung nur in den Wäldern. Besonders im roten Wald von Pripjat. „Hier ging kurz nach der Katastrophe ein Regen nieder“, erzählt Jewgen. Sein Geigerzähler piepst laut und zeigt 8 Millisievert. „Die Pflanzen sind abgestorben und wurden rot, daher der Name.“ Inzwischen ist eine neue Generation Pflanzen herangewachsen, grüne Pflanzen. Aber belastet sind Bäume und Sträucher nach wie vor.

Wer die 30-Kilomter-Zone betritt, wird belehrt, dass er auf dem Asphalt bleiben soll, weil Pflanzen und unebener Grund die Radioaktivität speichern. Nicht rauchen, nirgendwo aufstützen, nichts anfassen. Besondere Vorsicht in geschlossenen Räumen wegen des Staubs. Des radioaktiven Staubs.

30 Jahre nach der Katastrophe werben Reiseanbieter mit Touren nach Tschernobyl. Sie preisen unvergessliche Erlebnisse an; ganz Harte können dort übernachten. 8000 Touristen besuchen den Ort jedes Jahr.

Höhepunkt ist die Fahrt zum Block 4 des Kernkraftwerks. Hier passierte in der Nacht zum 26. April 1986 der Super-GAU. Auslöser war ein Versuch, bei dem ein Notfall­szenario nach einem Stromausfall durchgespielt wurde. Eine Verquickung von Konstruktionsfehlern und menschlichem Versagen führte in der dramatischen Nacht zur atomaren Katastrophe mit völliger Kernschmelze.

So, wie man ihn von Bildern kennt, taucht Block 4 vor uns aus dem Nebel auf. Ein gruseliger, unheimlicher Anblick. Daneben der fast fertige neue Sarkophag, der über den Unglücksreaktor geschoben werden soll. Die neue Hülle mag den radioaktiven Substanzen den Weg in die Luft versperren, nicht aber den durch den Boden ins Grundwasser. Der Reaktor ist eine tickende Zeitbombe. Wir stehen auf neuem Asphalt, Jewgens Geigerzähler zeigt 2 Millisievert. „Das ist die natürliche Strahlenbelastung eines Jahres“, erklärt er. Oder die eines Langstreckenflugs.

Während der Reaktorkatastrophe wurde ein Vielfaches der Radioaktivität der Hiroshimabombe freigesetzt. Eine Mischung verschiedener Stoffe: Jod mit einer Halbwertzeit von wenigen Tagen, Cäsium mit 30 Jahren, Plutonium mit 375  000 Jahren. Je kürzer die Halbwertzeit, desto gefährlicher die Stoffe, weil durch den schnellen Zerfall die Strahlung höher ist. Je höher die Halbwertzeit, umso länger wirkt die Strahlung.

Der Mix macht Tschernobyl gefährlich. Die Zone um das Kraftwerk bleibt unbewohnbar. Auf Jahrtausende. Und auch wir wollen irgendwann einfach nur noch weg. Weg von dem Ort, der wie kaum ein zweiter für die Gefahren steht durch Technik, die vom Menschen geschaffen wurde.