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Bundesgerichtshof Kosten für Lebenserhalt vor Gericht

Der Sohn eines toten 82-Jährigen fordert von einem Arzt mehr als 150.000 Euro für die künstliche Verlängerung des Lebens seines Vaters.

12.03.2019, 14:55

Karlsruhe/München (dpa) l Heinrich Sening ist 82 Jahre alt geworden, aber wenn man seinen Sohn Heinz fragt, hätte spätestens mit 80 Schluss sein müssen. "Er war am Ende", sagt er über die letzten Jahre seines dementen Vaters. Im Pflegeheim bewegungsunfähig im Bett, außerstande, sich mitzuteilen, von Krankheiten gebeutelt, hält ihn bis 2011 die künstliche Ernährung per Magensonde am Leben. Eine sinnlose Quälerei, meint Sening junior. "Er durfte nicht sterben."

Mit anklagenden Worten will es der Sohn nicht bewenden lassen, und deshalb steht der Bundesgerichtshof (BGH) seit Dienstag vor einer fast schon ungeheuren Frage: Steht einem Menschen Schmerzensgeld zu, weil ein Arzt sein Leiden unnötig verlängert hat? (Az. VI ZR 13/18)

"Das hat es in der Rechtsgeschichte noch nicht gegeben", sagt Senings Anwalt, Wolfgang Putz. Mit dem Tod des Vaters hat der Sohn alles geerbt – auch die Ansprüche: Vom behandelnden Hausarzt will er mindestens 100.000 Euro Schmerzensgeld wegen "fortgesetzter Körperverletzung" und mehr als 52.000 Euro Schadenersatz. So viel sollen seit Anfang 2010 Behandlung und Pflege gekostet haben.

In den ärztlichen Grundsätzen zur Sterbebegleitung heißt es: "Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, ist eine Änderung des Behandlungszieles geboten, wenn lebenserhaltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden oder die Änderung des Behandlungsziels dem Willen des Patienten entspricht."

Im Fall Sening kommen die Münchner Gerichte 2017 zu dem Ergebnis, dass die Sondenernährung zumindest in den letzten knapp zwei Jahren der reinen Lebenserhaltung diente – und damit eine zweifelhafte Sache war. Weil der Sohn in den USA lebt, betreut den Demenzkranken damals ein Rechtsanwalt. Der Hausarzt sei zwar nicht verpflichtet gewesen, die Behandlung selbst abzubrechen, heißt es in den Urteilen. Er hätte aber den Betreuer ansprechen und mit diesem sehr gründlich erörtern müssen, ob die 2006 gelegte Magensonde bleiben soll oder nicht.

Und was dann? Rückblickend lässt sich das nicht mehr klären. Der Betreuer ist dem Willen des Patienten verpflichtet. Aber was Heinrich Sening gewollt hätte, weiß keiner. Eine Patientenverfügung hat er nie verfasst. So bleiben nur Mutmaßungen. "Er war ein sehr lebenslustiger Mensch, hat immer gesagt, ich will einmal sehr alt werden, 100 Jahre", sagt Sening junior, der selbst Kranken- und Altenpfleger ist. "Aber das hätte er nicht gewollt, da bin ich mir ziemlich sicher."

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz rät jedem, rechtzeitig vorzusorgen und für konkrete Situationen wie Wachkoma, Organversagen oder eben Demenz präzise Behandlungsanweisungen niederzuschreiben. "So wird die Selbstbestimmung bis zum Tod gesichert", sagt Vorstand Eugen Brysch. "Hätte eine Patientenverfügung vorgelegen, wäre der Prozess überflüssig." Nach seinen Erfahrungen hat bei den Ärzten ein Umdenken eingesetzt, Übertherapie komme immer seltener vor.

Anwalt Putz geht trotzdem davon aus, dass es Jahr für Jahr Tausende Fälle wie den von Heinrich Sening gibt. Mit einem Grundsatz-Urteil will er erzwingen, dass medizinische Standards nicht nur "blumig auf den Lippen" liegen, sondern angewandt werden. "Leider ist es so, dass man schlechte Ärzte nur über Sanktionen korrigieren kann", sagt er.

Bei dem, was er seinen Kampf für mehr Menschenrechte am Lebensende nennt, schreckt Putz auch vor unorthodoxen Methoden nicht zurück. 2007 rät er einer Mandantin im Streit mit dem Heim, bei ihrer im Wachkoma liegenden Mutter den Sondenschlauch selbst durchzuschneiden. Das Landgericht Fulda verurteilt ihn wegen versuchten Totschlags – der BGH spricht ihn frei. Die Patientin hatte sich früher gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen. Für den BGH rechtfertigt das nicht nur den Behandlungsabbruch, sondern auch ein "aktives Tun".

Ein Urteil aus Karlsruhe, das Ärzte für sinnlose Lebensverlängerung haftbar macht, wäre für Putz so etwas wie der fehlende Schlussstein. "Dann müssen Staatsanwälte in Zukunft aktiv werden", glaubt er. Mit Sening hat er Revision eingelegt, obwohl das Oberlandesgericht München diesem 40.000 Euro Schmerzensgeld zuerkannt hat.

Aber diesmal scheinen die obersten Zivilrichter des BGH nicht gewillt, ihm zu folgen. In der Verhandlung am Dienstag zieht die Senatsvorsitzende Vera von Pentz Parallelen zu einem Fall aus den 1980er Jahren: Ein Mädchen wird wegen einer Röteln-Erkrankung der Mutter mit schwersten Behinderungen geboren; die Eltern machen den Arzt dafür verantwortlich, nicht abgetrieben zu haben.

Damals spricht der BGH zwar den Eltern Schadenersatz zu, nicht aber dem Kind. Mit der Begründung: Das menschliche Leben sei "absolut erhaltungswürdig" – "das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu". Hier sei die Situation zwar etwas anders, sagt von Pentz. Im Gegensatz zum Embryo habe ein Patient ein Selbstbestimmungsrecht. Aber der Senat könne sich nicht hinstellen und sagen, das Leben eines künstlich Ernährten sei ab der vierten Lungenentzündung unwert.

Ein Rest Hoffnung bleibt Putz und Sening trotzdem vorerst. Die Richter wollen das Urteil erst in einigen Wochen verkünden – und ihren Fall bis dahin noch einmal eingehend beraten.