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Brexit Wenn auf Ernüchterung der Kater folgt

Seit einem Jahr ist Großbritannien kein Mitglied der EU mehr. Folgen sind spürbar. Doch die Brexit-Saga ist noch lange nicht zu Ende.

30.01.2021, 23:01

London (dpa) l England-Fahnen, Jubelgeschrei und "God save the Queen": Als Großbritannien am 31. Januar 2020 die Europäische Union verlässt, feiern Tausende Brexit-Anhänger in London auf dem Platz vor dem Parlament. Ein Jahr später ist von der Euphorie nicht mehr viel zu spüren. Mit dem Ende der Übergangsphase zum Jahreswechsel machen sich Schwierigkeiten für den Handel bemerkbar. Die Briten glauben nach Umfragen inzwischen überwiegend, dass der EU-Austritt ein Fehler war. Doch es gibt kein Zurück.

Vor allem die Fischer fühlen sich betrogen. Ihnen sollte der Brexit höhere Fangquoten in den eigenen Gewässern und damit höhere Einnahmen bringen. Vor dem Referendum 2016 fuhr eine Armada von Fischerbooten die Themse hinauf vors Parlament, um für den Austritt zu werben. Doch der Brexit brachte viel Papierkram mit sich. Nun müssen viele Fischer zusehen, wie ihr Fang verrottet, während sie mit Zertifikaten zur Lebensmittelsicherheit und Zollerklärungen beschäftigt sind. Der Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, bekannt für eine gewisse Exzentrik, erklärte dazu: "Entscheidend ist, dass wir unseren Fisch zurückhaben. Es sind jetzt britische Fische. Und damit bessere und glücklichere Fische."

"Brexit bedeutet Brexit", betonte Ex-Premierministerin Theresa May gern. Doch was Brexit bedeuten sollte, war lange unklar. Hoffnungen auf ein ein enges Verhältnis mit der EU erfüllten sich nicht. Der No-Deal-Brexit wurde abgewendet – doch es wurde auch kein weicher Brexit. Das Handels- und Partnerschaftsabkommen ist dünn. Neben den Fischern sehen auch viele andere ihre Geschäfte in Gefahr. Ein niederländischer Händler für Fahrradzubehör teilte mit, er exportiere in jedes Land der Welt, nur nicht mehr nach Großbritannien – wegen des Zolls und neuer Regeln für die Abführung von Mehrwertsteuer.

Jahrelang hatten sich die Brexit-Verhandlungen hingezogen, zuerst über den Austritt und anschließend über die neuen Beziehungen. Immer wieder wurden Deadlines gerissen und der Austritt verschoben. Premierminister Boris Johnson tönte einst, er wolle lieber "tot im Graben liegen", als den Brexit-Termin noch einmal zu verschieben. Er verschob ihn. Erst am 31. Januar 2020 war endgültig Schluss.

EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte es im Lauf der Jahre mit vier verschiedenen Brexit-Ministern beziehungsweise Chefunterhändlern zu tun. Mehrmals fürchtete er ein Scheitern. Immer wieder warnte er vor der tickenden Uhr. Nach Abschluss der Gespräche sagte er nun: "Die Uhr tickt nicht mehr." Inzwischen schreibt Barnier an einem Buch. Er dürfte einiges zu erzählen haben.

Schwierig war auch die Frage, wie eine harte Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindert werden sollte. Dachte Brüssel, mit dem Austrittsabkommen sei das Problem gelöst, kam London plötzlich mit einem Gesetzentwurf um die Ecke, der alles wieder infrage stellte. Das sei ein Rechtsbruch auf "spezifische und begrenzte" Art, erklärte der britische Nordirland-Minister im Unterhaus. Am Ende einigte man sich doch: Nordirland unterliegt weiterhin den Regeln von EU-Zollunion und Binnenmarkt.

Mit dem auf einen roten Bus gedruckten Versprechen, 350 Millionen Pfund statt an die EU in den Nationalen Gesundheitsdienst NHS zu stecken, fuhr Johnson durchs Land. Doch die Zahl stimmte nicht. Weder war der sogenannte Briten-Rabatt herausgerechnet worden noch das Geld, das Großbritannien über EU-Förderprogramme wieder zurückerhielt. Johnson wurde wegen "Missbrauchs offizieller Statistiken" abgemahnt. Ob die zusätzliche Summe dem Gesundheitsdienst inzwischen zu Gute kommt, ist unklar. Die Regierung verweist auf erhebliche Investitionen in den Gesundheitssektor wegen der Corona-Pandemie.

Immerhin an einer Front ist nun Ruhe: Der Gründer der Ukip (United Kingdom Independence Party), Nigel Farage, galt als treibende Kraft hinter dem Brexit. Politisch hat es sich für ihn nicht ausgezahlt. Sein Sitz im EU-Parlament war mit dem Austritt weg. Der Sprung ins nationale Parlament blieb ihm wegen des Mehrheitswahlrechts stets verwehrt. Trotzdem zeigt sich Farage zufrieden. "Im Großen und Ganzen ist der Krieg vorbei", meint er heute. Über Johnson sagt er anerkennend: "Er hat getan, was er versprochen hatte."

Nicht vorbei ist der Kampf der Schottischen Nationalpartei (SNP) um Schottlands Unabhängigkeit und eine mögliche Rückkehr in die EU. Für Mai sind Regionalwahlen geplant. Sollte die SNP eine absolute Mehrheit erreichen, wüchse der Druck auf London, ein zweites Referendum über die Loslösung zuzulassen. Umfragen zufolge ist inzwischen eine stabile Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit. Noch ist aber nicht abzusehen, dass sich London dem Druck aus Edinburgh beugt.