Corona-Pandemie Hohes Risiko ab 70

Mediziner fordern differenzierte Strategien für Ältere und Jüngere

08.04.2020, 23:01

Politiker, Journalisten und Leser schauen täglich auf die Zahl der Covid-Infizierten. Von Zuwachsraten ist die Rede und von Verdopplungszeiten. Etliche Experten mahnen aber, differenzierter mit den Daten umzugehen. Das hätte dann auch Konsequenzen für eine Existstrategie. Fast 15 000 der in Deutschland gemeldeten Covidpatienten sind 70 Jahre und älter. Nahezu 1400 von ihnen sind bislang gestorben. Das ist ein Anteil von gut 9 Prozent in dieser Altersgruppe. Bei den Unter-70-Jährigen beträgt diese Quote 0,25 Prozent. Das heißt: Die Todesrate ist bei den Älteren 36-mal höher.

Das spiegelt sich auch in der Gesamtübersicht wider: Mehr als 1600 registrierte Patienten haben Covid nicht überlebt. Neun von zehn sind 70 Jahre und älter. Unterschiede gibt es auch bei der Zahl der Infizierten insgesamt, die täglich gemeldet wird. Diese wächst bei den Älteren (ab 60 Jahre) schneller als bei den Jüngeren.

Doch nicht das Alter allein erhöht das Risiko. Erschwerend wirken Vorbelastungen. Das bestätigen Rechtsmediziner wie der Hamburger Klaus Püschel, der Covid-Verstorbene in Hamburg obduziert. „Alle, die wir bisher untersucht haben, hatten Krebs, eine chronische Lungenerkrankung, waren starke Raucher oder schwer fettleibig, litten an Diabetes oder hatten eine Herz-Kreislauf-Erkrankung“, sagte er der „Welt“. Gesichert ist, dass diese Vorerkrankungen bei Älteren häufiger auftreten als bei Jüngeren.

Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene fordert deswegen eine differenzierte Sicht auf die Infektionsentwicklung. Ihr Vorstandssprecher Dr. Peter Walger sagt der Volksstimme: „Es reicht nicht, allein auf die Infektionsrate und die Verdopplungszeit unabhängig vom Risikoprofil der Infizierten zu schauen. Das Krisenmanagement sollte sich fokussieren auf die Senkung der Fallzahlen schwerer Erkrankungen, von Intensivaufnahmen, Beatmungen und von Todesfällen. Wir brauchen zielgruppenspezifische Maßnahmen.“

Ganz oben steht dabei der Schutz der Bewohner in Alten- und Pflegeheimen sowie professionelle Schutzkleidung für Mediziner und Pfleger in Kliniken, Heimen und bei mobilen Diensten. Daran hat es gemangelt. Jetzt wurde verstärkt geliefert. Bundesweit haben sich dennoch bereits Bewohner in mehr als 330 Pflegeheimen infiziert.

Seit Ende März wächst in Deutschland die Zahl der Covid-Sterbefälle täglich im Mittel um 17 Prozent. Hielte dieses Tempo an, hätten wir in 15 Tagen etwa 17 000 Tote zu beklagen – so viel wie in Italien heute.

Die stark unterschiedliche Gefährdungslage in den Altersgruppen muss sich auch auf die Politik ab Ende April auswirken. „Eine Lockerung ist zuerst bei den weniger Gefährdeten denkbar. Kitas, Schulen und Universitäten könnten als erstes öffnen“, meint Walger.

Eines ist dabei klar: Werden die Beschränkungen sukzessive fallen, dürfte die Zahl der Neuinfizierten wieder steigen. Dabei gibt es auch einen positiven Effekt: Haben Menschen Covid überstanden, sind sie immun und auch nicht mehr ansteckend – nach aktueller Forschungslage wohl bis zu zwei Jahre.

Heißt die Devise also: Die Alten schützen, die Jungen von allen Restriktionen befreien? Ganz so einfach ist es nicht. Denn es lauert eine Gefahr: Bei einer steil ansteigenden Infektionswelle würden in kürzester Zeit Zehntausende krank und halbe Belegschaften ausfallen. Und das Gesundheitssystem käme dann doch schnell in die rote Zone. Wenn auch Jüngere deutlich seltener schwer an Covid erkranken, so ist das Risiko nicht gleich Null. Die Masse macht es dann. Selbst das mit 40 000 Intensivplätzen gut ausgerüstete Deutschland kann an seine Grenzen gelangen. „Daher denke ich, dass es für jeden am besten wäre, eine Infektion zu vermeiden, bis es wirksame Medikamente oder Impfstoffe gibt“, sagt der Immunologe Professor Bernhard Fleischer von der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Globale Gesundheit der Volksstimme.

Leider gibt es derzeit noch keine umfassende Statistik zu Schwerstkranken. Bislang sind beim Robert-Koch-Institut 2700 Intensivpatienten registriert – davon werden 2215 beatmet. Tatsächlich dürfen es deutlich mehr sein, da erst gut 1100 Kliniken ihre Angaben gemeldet haben. Das Institut ist dabei, seine Datenbank aufzurüsten.

Daher: Wenn ab Ende April wieder erste Türen geöffnet werden, geht das nicht ohne Vorgaben. „Die wichtigste Regel ist die Abstandsregel“, sagt Mediziner Walger von der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. Im bestimmten Bereichen, wie bei Hörgeräteakkustikern, Optikern oder Physiotherapeuten, wo das oft nicht machbar ist, sollte ein Mundschutz angeordnet werden. Walger sagt: „Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch der relativ einfache-Mund-Nasen-Schutz den Trägern dabei hilft, das Infektionsrisiko zu mindern.“