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Dauerkonflikte Kluft in Großer Koalition wächst

Koalitionspartner CDU und SPD beraten über die Flüchtlingskrise und wollen das Hartz-IV-Trauma überwinden - es driftet einiges auseinander.

08.02.2019, 23:01

Berlin (dpa) l Was zunächst als Formsache galt, könnte auch zum Bruch führen. "Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen", heißt es auf Seite 174 des Vertrags von Union und SPD. Plötzlich wird diese "Revision" bei vielen in beiden Lagern fast herbeigesehnt, die Partner dieser Ehe wider Willen driften auseinander – das hängt auch mit zwei Altlasten zusammen.

Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, bisher Verfechter der Koalition, rät der SPD wegen der Dauerkonflikte, ein vorzeitiges Ende in Erwägung zu ziehen. Die SPD müsse prüfen, ob der Koalitionsvertrag "ausreichend auf die Herausforderungen von morgen ausgerichtet ist", sagt er im "Spiegel". "Mein Gefühl ist, dass er das nicht ist." Wenn CDU/CSU nicht bereit seien, sich neuen Herausforderungen anzupassen – was wohl heißt, den Vertrag richtig aufzuschnüren -, "muss man gehen". Spätestens auf dem Parteitag im Dezember will die Partei die "Revisionsklausel" beraten. Wenn alles überhaupt bis dahin hält. Es rumort kräftig.

Am nächsten Mittwoch kommt es zum ersten Koalitionsausschuss im neuen Jahr, in neuer Konstellation: mit CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und CSU-Chef Markus Söder. Plötzlich ist die schwer unter Druck stehende SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, keine zehn Monate im Amt, die Vorsitzende der GroKo-Parteien mit der längsten Amtszeit. Kanzlerin Angela Merkel versucht, den Laden zusammenzuhalten. Doch das ruhige Regieren nach den Horrormomenten im ersten Jahr stößt sich an schlechten Umfragen – und Verdruss in den beteiligten Parteien. Die Union will mehr Wirtschaft wagen, und Nahles setzt den Blinker nach links.

Die Union pocht auf Steueranreize für Unternehmen, die Konjunktur schwächelt – es wird statt 1,8 Prozent nur noch ein Wachstum von 1,0 Prozent erwartet. Sie will zudem den "Soli" ganz abschaffen, nicht nur wie bisher verabredet ab 2021 für untere und mittlere Einkommen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) lehnt das alles ab – die SPD träumt derweil von der "Überwindung" von Hartz IV. Aber Milliardenlücken in der Finanzplanung und überbordende Sozialausgaben bringen die Union dagegen in Stellung. Außerdem will Scholz den Steuersatz für Spitzenverdiener erhöhen. Beide Lager definieren quasi schon, was sie gerne noch nachverhandelt hätten.

Im neuen ZDF-"Politbarometer liegt die Union bei 30 Prozent, die SPD kommt immerhin wieder auf 16 Prozent – aber es sind weiterhin dramatisch schlechte Werte. Es ist sicher kein Zufall, dass die CDU sich am Sonntag und Montag in einem "Werkstattgespräch" in Berlin intensiv mit der Aufarbeitung der Flüchtlingskrise befasst – ohne Merkel. Und ein paar Kilometer entfernt will die SPD zeitgleich ihr Hartz-IV-Trauma therapieren. Für die Klausur des Parteivorstandes liegt ein Sozialstaats- und Arbeitsmarkt-Konzept für "eine neue Zeit" auf dem Tisch. Ziele sind etwa die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, gesetzliche Regeln für das Arbeiten von zu Hause aus ("Homeoffice"), mehr Qualifizierung von Arbeitslosen. Ab 58 Jahren soll es künftig bis zu 33 Monate lang Arbeitslosengeld I statt Hartz-IV geben sowie weniger harte Sanktionen für junge Arbeitslose.

Statt weiter den Koalitionsvertrag Spiegelstrich für Spiegelstrich abzuarbeiten, ist mehr Feuer unter dem Dach. Unterschiede werden auch durch die Führungswechsel erkennbarer. Aber je nach Ausgang von Europa- und Bremenwahl am 26. Mai könnten gerade bei der SPD die Fliehkräfte unkalkulierbar werden. Das Aufschnüren von Hartz IV macht die Union nicht mit, auch bei dem Grundrenten-Konzept von Sozialminister Hubertus Heil (SPD) steht sie auf der Bremse. Aber eine deutliche Mehrheit der Deutschen (61 Prozent) ist laut ZDF-"Politbarometer" dafür, Mini-Renten nach 35 Jahren Beitragszahlungen aufzustocken.

Wenn sich die CDU zu ihrem "Werkstattgespräch" über die Migrations und Flüchtlingspolitik trifft, ist es auch eine erste Nagelprobe für Kramp-Karrenbauer. Schafft sie es, die Kritiker von Merkels Migrationspolitik bei CDU und CSU einzufangen? Für AKK geht es darum, nicht mit der Altlast von 2015 in die wichtigen Wahlkämpfe der kommenden Monate ziehen zu müssen. Sie löst damit ein Versprechen aus dem internen Kampf um die Nachfolge von Merkel als CDU-Chefin ein. Die Entscheidung Merkels von 2015, die Grenzen nicht für die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge aus Syrien und Irak zu schließen, hatte nicht nur zu einem unversöhnlichen Streit mit dem damaligen CSU-Chef Horst Seehofer geführt. Mehrfach brachte der Streit auch die Koalition an den Rand des Abgrunds. In der CDU geben viele Merkels Migrationspolitik bis heute die Schuld am Absturz in den Umfragen.

Kramp-Karrenbauer muss das Kunststück schaffen, die Politik ihrer Fördererin Merkel kritisch zu beleuchten, ohne sich zu stark von Merkel abzusetzen. Die Kanzlerin ist nicht eingeladen. In Unionskreisen heißt es, dies dürfte mit AKK abgesprochen sein – auch, um die Merkel-Kritiker nicht unnötig erneut auf die Palme zu bringen. Es geht sicher auch darum, dieses Thema zu befrieden, um mit den alten Kernkompetenzen in den Bereich Wirtschaft und innere Sicherheit wieder in Vorlage zu kommen.

An einem Scherbengericht für Merkel habe Kramp-Karrenbauer kein Interesse, heißt es in der CDU. Sie müsse aber das Signal senden, dass sich mit ihr eine unkontrollierte Zuwanderung von Millionen Migranten nicht wiederholen werde. Mit CSU-Chef Söder habe Kramp-Karrenbauer schon eine gute Grundlage zur Befriedung des Unionsstreits gelegt.

Unzufriedenheit in den Regierungsparteien, die Sorge vor weiteren heftigen Verlusten bei der Europawahl, dazu der unklare Brexit, das Auseinanderdriften in Europa: Merkel erscheint längst nicht mehr als die mächtige Macherin, Außenminister Heiko Maas (SPD) setzt kaum Akzente – und Vizekanzler Scholz wird intern in der SPD ähnlich heftig attackiert wie Nahles. Kommt es zum einem Putsch bei der SPD, stellt sich auch die Koalitionsfrage. Ein Gradmesser werden spätestens auch die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg (1. September) und Thüringen (27. Oktober) – und das Abschneiden der AfD.

Merkel und Kramp-Karrenbauer setzen erstmal darauf, dass führende Sozialdemokraten in Regierung und Fraktion kein Interesse an einem Ausstieg aus der Koalition und einer vorgezogenen Neuwahl haben. In der CDU heißt es, auch kaum jemand in der Union könne zurzeit ein Interesse haben, Merkel vom Hof zu jagen. AKK brauche noch Zeit, um sich als Alternative zu empfehlen. Wenn sich die SPD vorzeitig verabschieden sollte, scheint zumindest eines klar: Es wird keinen Neuanlauf für Jamaika mit Grünen und FDP unter einer Kanzlerin Merkel geben. Kramp-Karrenbauer rechnet dann mit einer Neuwahl.