1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Hoffnung auf Polen als EU-Musterschüler

Interview Hoffnung auf Polen als EU-Musterschüler

Vor 100 Jahren wurde die polnische Republik gegründet. Włodzimierz Borodziej über das Polen von heute und seine Rolle in Europa.

Von Steffen Honig 25.10.2018, 01:01

Volksstimme: Polen ist einerseits ein prosperierendes EU-Land, andererseits auf dem Rückmarsch in den Nationalismus. Gerade hat die rechte PiS die Regionalwahlen gewonnen. Wohin wird der Pegel ausschlagen?

Włodzimierz Borodziej: Nein, die PiS hat die Kommunalwahlen verloren.

Aber mit rund 32 Prozent die meisten Stimmen errungen.

Das ist richtig. Die Kaczynski-Partei Recht und Freiheit (PiS) will eine Renationalisierung Europas. Das setzt sie mit brutalen Mitteln durch. Was bei den Wahlen passiert ist, wird aber völlig falsch gelesen. Sie sind zwar die stärkste Partei geworden. In den Großstädten aber haben entweder die Liberalen gewonnen, oder es wird einen zweiten Durchgang geben, wo die Liberalen eine deutliche Mehrheit haben. Warschau, Posen, Breslau, Lodz hat die PiS schon verloren. Auf dem Land hat sie es nicht geschafft, die Bauernpartei auszubooten. Mehr als 60 Prozent der Polen haben für Liberale, Linke und die Bauernpartei gestimmt.

Bei der Parlamentswahl 2019 könnte es aber für die PiS reichen, oder?

Sie werden doch Umfragen nicht trauen! Ich würde mich – wäre ich ein Rechter – schon vor den Wahlen im kommenden Jahr wirklich fürchten.

Die PiS hat den kleinen Leuten versprochen: Wir kümmern uns um euch. Das ist geschehen. Was sollte die Polen dazu bringen, wieder komplett umzuschwenken?

Ich halte den Zusammenhang zwischen Wahlergebnis und sozialer Zusammensetzung der Gesellschaft für falsch. Es geht um Mentalitäten und um Ängste, die die Rechten überall in Europa schüren. Sie wollen den Dreiklang der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – aushebeln. Das bedeutet Sicherheit statt Freiheit, keineswegs nur in Polen. Die Rechte nutzt dabei die furchtbare Angst vor den Ausländern aus. Dabei haben wir in Polen keine Syrer, keine Iraker – nichts.

Resultieren fremdenfeindliche Ressentiments in Polen, Ostdeutschland und osteuropäischen Staaten aus der früheren Zugehörigkeit zum abgeschotteten Ostblock?

Meines Erachtens überhaupt nicht. Wir haben das gleiche Phänomen in Frankreich, wo Marine Le Pen den französischen Juden sagt: Ich bürge für Eure Sicherheit, weil ich Euch vor der Scharia bewahre. Den Franzosen überhaupt garantiert sie ihre gewohnte Lebensweise. Der Muslim als Feind Europas hat nichts mit der Vorgeschichte des Ostblocks zu tun.

In den vergangenen Jahren sind eine Million Ukrainer nach Polen gekommen. Unruhen gibt es deswegen nicht.

Das sind Gastarbeiter. Polen hat die Ukrainer aufgenommen, weil es sie als Arbeitskräfte braucht.

Aber das Zusammenleben funktioniert offenbar. Bei anderen Migranten macht Polen dicht. Ist das auch eine Ablehnung der Kontingent-Zuteilung, wie sie die deutsche Kanzlerin gern hätte?

Subjektiv geht es auch um die Zuteilungsmentalität, die Fremdbestimmung durch Berlin und Brüssel. Dann hat die damalige liberale Ministerpräsidentin Kopacz einen Kardinalfehler begangen: Sie hätte von sich aus eine Quote festlegen und sagen sollen: Wir nehmen 10.000 Flüchtlinge auf. So viel, wie wir Pfarreien in Polen haben. Mit den Ukrainern sind wir bestens bedient, sie sind weiß und christlich oder laizistisch.

In Polen wird die angebliche EU-Diktatur zwar gegeißelt, aber die Gemeinschaft finanziell gern wie eine Zitrone ausgequetscht. Wie geht das zusammen?

Viele Polen sehen die EU als Bankautomat (lacht). Es ist schwer erklärbar: Einerseits ist Brüssel der Feind, wo die Deutschen regieren, die an allem Ungemach in Europa Schuld sind, anderseits ist dort sehr viel Geld zu holen. Die wichtigste Erklärung aber ist: Der Urgedanke der EU war ja, internationale Konkurrenz zu zivilisieren. Innerhalb der Nato hat es einen Krieg zwischen Griechenland und der Türkei gegeben, innerhalb der EU noch nie. Es ist für die junge Generation heute selbstverständlich, dass es keine Kriege gibt. Das war früher unvorstellbar. Hier liegt der eigentlich Gewinn.

Die EU hat im Streit über die polnische Justizreform Rückendeckung vom Europäischen Gerichtshof erhalten. Wird sich Warschau an den Spruch halten und die Richterentlassungen zurücknehmen?

Die Regierung in Warschau ist unbedarfter als die in Budapest, die immer weiß, wann sie zurückweichen muss. Die Absichten der polnischen Regierung sind nicht vorhersehbar und somit auch der Ausgang des Konflikts offen. Ziel der polnische Regierung ist es, dass die EU droht, Polen vor die Tür zu setzen. Dann könnte sie erklären: Wir wollten ja bleiben, aber Brüssel will es nicht. Eng wird es für die PiS aber, wenn die Überweisungen aus Brüssel – speziell für die Landwirtschaft – als Strafmaßnahme gekürzt werden sollten.

Nun muss die PiS nicht ewig regieren. Könnte sich die EU-Politik wieder drehen?

Wir haben mehrfach erlebt, dass EU-Musterschüler – wie Griechenland, Portugal oder Irland – in die letzte Klasse zurückfallen und umgekehrt. Ich hoffe, dass ich noch erleben werde, dass Polen wieder zum Musterschüler wird.

Polen gilt noch immer als erzkatholisches Land. Derzeit erlebt der Film „Klerus“ der Machenschaften der katholischen Kirche kritisiert, einen sagenhaften Erfolg. Warum?

Die Polen sind nach offiziellen Angaben zu 83 Prozent katholisch. Soziologen haben nachgewiesen, dass es mit jedem Jahrgang weniger Gläubige werden. Die Polen respektieren die symbolische Deutungshoheit der römisch-katholischen Kirche. In Wirklichkeit haben sehr viele eben genug davon. Drei Millionen Zuschauer in kurzer Zeit für „Klerus“ – das hat es im polnischen Kino noch nie gegeben.

Das deutsch-polnische Verhältnis war noch nie einfach. Wie würden Sie die derzeitigen Beziehungen einordnen: Nachbarschaftlich, partnerschaftlich oder freundschaftlich?

Freundschaft zwischen Völkern gibt es meiner Meinung nach nicht. Nachbarn sind wir durch die Geografie. Bei der Partnerschaft versucht die gegenwärtige Regierung, diese so locker wie möglich zu machen. Das funktioniert schon deshalb nicht, weil beide Länder sehr eng miteinander verbunden sind. Die PiS kann sich nicht sicher sein, ob man mit einem antideutschen Kurs gut fährt. Also Freundschaft ausgeschlossen, Nachbarschaft naturgegeben, Partnerschaft wird immer schwierig bleiben.

Wieso schließen Sie die Freundschaft so kategorisch aus?

Weil wir letztlich doch Konkurrenten sind. Das ist ja die Kunst, die in Brüssel praktiziert wird: den Ausgleich zum gegenseitigen Vorteil zu finden.