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Weihnachten Stille Nacht, sehr stille Corona-Nacht

Dieses Weihnachten wird anders als alle anderen. Millionen Familien stehen vor einem ethischen Dilemma.

18.12.2020, 23:01

Berlin (dpa) l Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich schon entschieden. Sein Weihnachten wird dieses Jahr anders als sonst. "Heiligabend, Weihnachten bin ich mit meinem Mann alleine, erstmalig", sagte der 40 Jahre alte Wahlberliner aus dem Münsterland diese Woche in einer Pressekonferenz. "Wenn es geht – mit Anmeldung und unter Hygienebedingungen – werden wir die Christmette besuchen."

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Programm angepasst: Er und seine Frau Elke Büdenbender wollen "im kleinsten Kreis feiern" – mit seiner 91-jährigen Mutter aus Brakelsiek in NRW. Die alte Dame bringt an Weihnachten traditionell Kasselerbraten und Sauerkraut auf den Tisch. "Auf die größeren Familienfeiern müssen sie dieses Jahr schweren Herzens verzichten", sagt eine Sprecherin.

An das Weihnachten von 2020 werden sich wohl alle für den Rest ihres Lebens zurückerinnern. Denn Millionen Familien haben die Wahl zwischen zwei Übeln: Corona-Gefahr oder Einsamkeit. Heißt die Devise dieses Jahr: "Kevin – Allein zu Haus" für alle? "Stille Nacht" statt "Ihr Kinderlein kommet"? Aber was ist, wenn Oma unbedingt mitfeiern will? Vielleicht auch, weil sie in einem Alter ist, in dem man immer damit rechnen muss, dass dieses Weihnachten das letzte sein könnte?

Besuchen oder nicht besuchen, das ist hier die Frage. "In der privaten Diskussion bekomme ich die Frage jeden Tag viermal gestellt", erzählt Uwe Janssens, Präsident der deutschen Notfallmediziner. "Ich sag dann: Das musst du selber entscheiden, ob du das deiner 80-jährigen Mutter zumuten willst. Ich persönlich wäre da zurückhaltend. Und wenn, dann zumindest mit FFP2-Maske. Und mit einer auf ein Minimum beschränkten Gästezahl."

Eine sehr coronagerechte Szene findet sich übrigens im ARD-Weihnachtsklassiker "Der kleine Lord" von 1980: Der süße Ceddie und sein anfangs noch sehr ekliger Großvater, der Earl of Dorincourt, sitzen sich an den beiden Enden eines extrem langen Tisches gegenüber, so dass sie sich nur über Zurufe verständigen können. Man wird sich etwas einfallen lassen müssen dieses Jahr.

"Wenn ich meiner Oma erlauben möchte zu kommen, dann muss ich abwägen: Wie viel ist mir das wert und was bin ich dafür bereit an anderer Stelle aufzugeben?", meint die evangelische Theologin Ellen Radtke, die mit ihrer Frau den Youtube-Kanal "Anders Amen" betreibt. "Es bedeutet dann wahrscheinlich, dass andere Familienmitglieder nicht kommen können."

Natürlich gibt es auch die Haltung: Weihnachten – was soll die ganze Aufregung? "Jetzt klagen viele, dass sie wegen Corona nicht ihre nervigen Verwandten besuchen, nicht auf Betriebsfeiern abhängen, nicht auf überfüllten Weihnachtsmärkten shoppen können", sagte die Leiterin der Psychiatrie an der Berliner Charité, Isabella Heuser-Collier, in einem "Tagesspiegel"-Interview. "Selbst das gemeinsame Glühweintrinken wird in den Rang eines Grundrechts erhoben. Das ist grotesk." Weihnachten werde völlig überhöht.

Ist Weihnachten wirklich so wichtig? Zumindest wird es wichtig genommen. Davon zeugt schon die alljährliche Völkerwanderung kurz vor dem Fest: "I Want To Be Home For Christmas." Der Soziologe Sacha Szabo, der ein Buch über Weihnachten geschrieben hat, sagt: "Weihnachten war immer auch ein Mythos, eine verklärte Vergangenheit." Das klassische Weihnachten liegt per se lange zurück - man denke an den berühmten Spruch der Loriot-Figur Opa Hoppenstedt: "Früher war mehr Lametta." Wenn man dieses Jahr im Lockdown allein zu Hause sitzt, ist damit sozusagen der historische Lametta-Tiefpunkt erreicht. Weniger war nie.

Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert, doch das Konzept der "heilen Familie" ist nach wie vor wirkmächtig. "Weihnachten ist deshalb auch so bedeutsam, weil es ein Fest ist, an dem sich die Familie ihrer Identität versichert", sagt Szabo. Das dokumentieren die alljährlichen Familienfotos unterm Baum. Es gab mal ein Berliner Ehepaar, Anna und Richard Wagner, das sich von 1900 bis 1942 immer an Heiligabend per Selbstauslöser fotografiert hat. Diese Fotos verschickten sie dann als Grußkarten an Freunde.

Im Dezember 1918 zum Beispiel, als der Krieg gerade zu Ende war und die Spanische Grippe wütete, blieb der Gabentisch fast leer. Auf dem Bild von 1927 dagegen präsentieren sie stolz einen hochmodernen "Progress"-Staubsauger. 1940 wiederum bibbern sie im Wintermantel – es herrscht kriegsbedingte Kohlenknappheit. Bis heute lautet das tiefere Versprechen von Weihnachten: Alles wird gut.

Einen Baum hatten die Wagners immer – selbst im Krieg, selbst während der Spanischen Grippe. Auch jetzt fällt das Bedürfnis auf, möglichst viel aus der Vor-Pandemie-Welt in dieses Weihnachten hinüberzuretten: Die Heiligabend-Gottesdienste im Kölner Dom waren Stunden nach der Freischaltung auf der Website ausgebucht. Mancherorts haben die Kirchen die Präsenzgottesdienste aber auch schon ganz abgesagt.

Weihnachten falle diesmal nicht aus, werde aber ganz anders, sagte die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, bei Markus Lanz. "Es haben Menschen schon im Krieg Weihnachten gefeiert, in Hungersnöten. Ich will jetzt nicht relativieren, aber wir können doch mal sagen: Ihr lieben Leute, das werden wir doch wohl schaffen."

Ähnlich sieht es die Psychotherapeutin Heuser-Collier: Sie plädiert dafür, sich auf die Chancen der Corona-Weihnacht zu konzentrieren. Nach der Dauerklage, dass Weihnachten nur noch Stress ist, kann man es jetzt endlich mal besinnlich haben. "Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn man mal ein paar Tage auf der Couch abhängt. Das ist unter anderem der Sinn von Feiertagen." Und anschließend beginnen schon die Impfungen – da ist also Licht am Ende des Tunnels.

Genau diese Botschaft vermittle im übrigen auch die Weihnachtsgeschichte, sagt die Theologin Radtke. "Wir brauchen eine Zusage: Es wird wieder hell werden." Damit meine sie keinen Aufruf zu Lockerungen und Vernunftlosigkeit. Aber: "Ich möchte es groß auf die Straße schreiben: Fürchtet euch nicht! Das brauchen ganz viele Menschen dieses Jahr an Weihnachten."