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Streit mit EU Karlsruhe zündelt

Das Urteil zu EZB-Staatsanleihen hat ein Nachspiel. Deutschland droht ein Strafverfahren.

Von Anja Semmelroch 10.05.2020, 23:01

Karlsruhe l Mit ihrem Urteil zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Karlsruher Richter zum ersten Mal über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt – und damit Schockwellen in Europa ausgesendet.

Ein fatales Signal nennt es die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley. Der Europarechtler Franz Mayer spricht von einer „Atombombe“, die das Bundesverfassungsgericht gezündet habe. Bröckelt nun die Autorität des höchsten EU-Gerichts – in einer Zeit, in der die Europäische Union ohnehin zunehmend mit Nationalismus zu kämpfen hat? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist alarmiert.

Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne „auf den ersten Blick irritierend wirken“, schickt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, „dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf“. Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das mächtige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EU-Gericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt und damit die Union zusammenhält. Was, wenn das zu Widersprüchen führt?

In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor einzugreifen, wenn sie den innersten Kern des Grundgesetzes verletzt sehen. Und wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat. Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe. 2014 unterbreiten die deutschen Richter ihre Bedenken zum ersten Mal dem EuGH. Doch der gibt der EZB grünes Licht. 2017 – inzwischen hat die Notenbank viele Milliarden in Staatsanleihen gesteckt – der zweite Karlsruher Vorstoß in Luxemburg. Aber der EuGH lässt sich eineinhalb Jahre Zeit und erteilt dem Kaufprogramm dann recht pauschal seinen Segen.

Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war zu befürchten. Sie schieben das EuGH-Urteil als „objektiv willkürlich“ und „methodisch nicht mehr vertretbar“ beiseite und entscheiden im Alleingang, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe – ein beispielloser Vorgang.

„Ich habe die Sorge, dass sich das Urteil negativ auf die Zukunft und den Zusammenhalt der Europäischen Union auswirken könnte“, sagt die frühere Bundesjustizministerin Barley. EuGH-Entscheidungen müssten von den nationalen Gerichten respektiert werden. Der Europarechtler Mayer von der Universität Bielefeld hält die Situation für „hochgefährlich“. Den Richterspruch aus Karlsruhe sieht er als Angriff auf die EuGH-Kollegen.

Diese werden auch deutlich. „Ganz generell“ stellt der EuGH klar, dass derlei Urteile das Justizsystem der EU gefährdeten. Eine Vorabentscheidung sei für das nationale Gericht bindend. Dass die Handlung eines EU-Organs – in diesem Fall die EZB – gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr.

Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. „In Polen knallen die Korken“, sagt er. In dem Land baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer.

Tatsächlich wird das Urteil von der Regierung in Warschau nahezu euphorisch aufgenommen. Es sei von kolossaler Bedeutung und zeige, dass Polen in dem Konflikt mit der EU-Kommission Recht habe, sagt Vize-Justizminister Sebastian Kaleta. „Der deutsche Verfassungsgerichtshof hat heute direkt gesagt, dass die EU soviel darf, wie ihr die Mitgliedstaaten erlauben.“

Was also, wenn Polen, Ungarn oder andere Staaten sich ein Beispiel an Deutschland nehmen? Kommt nun ein Vertragsverletzungsverfahren auf Deutschland zu? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gibt sich entschlossen. „Ich nehme diese Sache sehr ernst“, schreibt sie. Der Richterspruch werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten. Die Kommission analysiere das Urteil derzeit und prüfe auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland „Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg“, schreibt von der Leyen. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. „Das ist, was uns zusammenhält.“